Paul-Ehrlich-Institut unehrlich? (Update) Das Paul-Ehrlich-Institut hat am Freitag eine Stellungnahme zu einem mit dem Todesfall Jasmin S. vergleichbaren Todesfall in Deutschland herausgegeben. Darin wird die Wahrscheinlichkeit für das Eintreten des "Plötzlichen Teenagertodes" ohne erklärbare Ursache deutlich höher eingeschätzt, als in der jüngst hier im Blog vorgestellten Schätzung. Das PEI begründet damit seine Einschätzung, dass es sich bei den Todesfällen um zufällige Ereignisse handelt, die nicht im Zusammenhang mit den vorangegangenen HPV-Impfungen stehen. Da das Phänomen in der wissenschaftlichen Literatur noch nicht näher beschrieben wurde und deshalb keine Terminologie zu bestehen scheint, bietet es sich an, es im Folgenden kurz SUTD (Sudden Unexplained Teenager Death) zu nennen, in Anlehnung an die Bezeichnung SUID (Sudden Unexplained Infant Death, vgl. die Nomenklaturdiskussion in dieser Arbeit, S. 143). Das PEI versucht sich ebenfalls an einer Abschätzung des SUTD-Risikos und bedient sich dabei der gleichen Datengrundlage: Unklare plötzliche Todesfälle sind sehr seltene Ereignisse, die mit unterschiedlicher Häufigkeit in jedem Lebensalter auftreten. Laut Todesursachenstatistik des Statistischen Bundesamtes gab es z.B. im Jahr 2006 in Deutschland in der Altersgruppe der 15- bis unter 20-Jährigen 58 Todesfälle mit unklarer Ursache (beide Geschlechter). Bezogen auf die Bevölkerungszahl von 4,8 Millionen in dieser Altersgruppe im gleichen Jahr errechnet sich eine Häufigkeit von 1,2 Fällen pro 100.000 Personen dieser Altersgruppe (die entsprechenden Berechnungen für die Jahre 1998 / 1999 / 2000 / 2005 ergeben Inzidenzen von 3,4 / 2,3 / 1,6 /1,5 pro 100.000). Das heißt, dass bei Impfung eines großen Teils dieser Bevölkerungsgruppe rein statistisch mit plötzlichen und unerwarteten Todesfällen in zeitlichem Zusammenhang, nicht jedoch in ursächlichem Zusammenhang, gerechnet werden muss.
Diese Rechnung erscheint mir nicht serös und verdient eine nähere Betrachtung.Zunächst: Wie kommt das Paul-Ehrlich-Institut auf 58 ungeklärte Todesfälle in der Altersgruppe? Das gesamte Kapitel ICD-10 R00 - R99 (Symptome und abnorme klinische oder Laborbefunde, die andernorts nicht klassifiziert sind) weist in der Todesursachenstatistik des Statistischen Bundesamtes für die Altersgruppe 15-20 Jahre 60 Fälle aus (38 männlich, 22 weiblich). Anders als es die Stellungnahme des PEI vermuten lässt, differenziert das Statistische Bundesamt die Todesfälle dieses Kapitels aber weitaus genauer, und hier wird es interessant. Es gibt die Gruppen R95, R96, R98 und R99. Hierzu werfe man zunächst einen Blick auf das entsprechende Kapitel des ICD-10. Ganz offensichtlich sind SUTD-Fälle wie der von Jasmin S. korrekt als R96 "Sonstiger plötzlicher Tod unbekannter Ursache" zu klassifizieren. Könnten nun SUTD-Fälle auch in den Kategorien R98 und R99 landen, schließlich ist die Beschreibung des ICD-10 - zumindest bei der Gruppe R98 - möglicherweise ebenfalls mit den Befunden der bekannten SUTD-Fälle in Einklang zu bringen? Nein, denn hier greifen weiterführende Bestimmungen, nach denen die Klassifikation von Todesfällen international weitgehend einheitlich durchgeführt werden soll. Auch in Deutschland erfolgt diese Einordnung nicht erratisch, sondern durch geschulte Experten der Statistischen Landesämter. In der amerikanischen Version der Handlungsanweisung liest sich die entsprechende Passage so: When more than one term classifiable to two or more of these categories is reported, code only one in this priority: R960 [d.h. R96.0], R961 [d.h. R96.1], R98, R99.
Eine Kodierung in Gruppe 98 erfolgt also offenbar nur dann, wenn eine Kodierung in Gruppe 96 nicht möglich ist. Eine Kodierung in Gruppe R99 erfolgt nur dann, wenn ein Todesfall weder in die Gruppe R96 noch in die Gruppe R98 eingeordnet kann.Kommen wir nun also zur Todesursachenstatistik des Statistischen Bundesamtes für das Jahr 2006. Wir betrachten das Kapitel ICD-10 R00 - R99 (Symptome und abnorme klinische oder Laborbefunde, die andernorts nicht klassifiziert sind) mit insgesamt 60 Todesfällen in der genannten Altersgruppe. Davon befindet sich kein einziger in der ureigenen SUTD-Gruppe R96 "Sonstiger plötzlicher Tod unbekannter Ursache". Insgesamt 6 Fälle (3m, 3w) sind der Kategorie R98 "Tod ohne Anwesenheit anderer Personen", weitere 52 Fälle (33m, 19w) der Gruppe R99 "Sonstige ungenau oder nicht näher bezeichnete Todesursachen" zugeordnet. Die Fälle aus der Gruppe R98 hatte ich in meiner Schätzung noch als potentielle SUTD-Fälle gelten lassen, obwohl sie das bei korrekter Auslegung des ICD-10 in aller Regel nicht sind. Die Fälle der Gruppe R99 dagegen nicht: Schon die Benennung der Gruppe "Sonstige ungenau oder nicht näher bezeichnete Todesursachen" erscheint kaum geeignet, die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten des Phänomens SUTD hochzurechnen. Das bestätigt sich, wenn man genauer recherchiert, welche Todesfälle in der Praxis dieser Gruppe zugerechnet werden. Sie umfasst nämlich ein weites Spektrum von Fällen, die mit dem Phänomen SUTD nichts zu tun haben. Hierzu gehören beispielsweise solche Todesfälle, in denen der Totenschein unleserlich ausgefüllt wurde, ein Problem, auf das das Statistische Bundesamt in diesem Zusammenhang explizit hinweist. Weiterhin gehören in die Gruppe R99 Todesfälle, in denen aufgrund des Verwesungszustandes von aufgefundenen Leichen keine Todesursache mehr festgestellt werden konnte, das Spektrum reicht dabei von Wasserleichen und mumifizierten Leichen bis hin zu Knochenfunden. Fazit Das PEI manipuliert die Leser seiner Stellungnahme nach meinem Eindruck in dreierlei Weise: 1. Es übertreibt dramatisch die aus den Daten des Statistischen Bundesamtes ableitbare Wahrscheinlichkeit für SUTD. 2. Es manipuliert die Leser zusätzlich dadurch, dass es die kombinierten Zahlen für Todesfälle männlicher und weiblicher Personen verwendet, obwohl die für die aktuelle Diskussion relevanten Zahlen für weibliche Personen differenziert vorliegen. Es drängt sich der Eindruck auf, dass diese Nachlässigkeit damit zu tun hat, dass in der Gruppe G99 fast doppelt soviele Todesfälle von männlichen wie von weiblichen Personen zu finden sind. 3. Zuletzt verzichtet das PEI auf einen expliziten Hinweis, dass sich die Zahlen auf den Zeitraum von einem Jahr beziehen, dass Verdachtsfälle von Impfkomplikationen jedoch fast ausschließlich einen Zeitraum von drei bis maximal vier Wochen nach einer Impfung umfassen. _ Update, 21.1.: Das PEI äußert sich in den Kommentaren und hat seine Stellungnahme angepasst. [HPV]
strappato 2008-01-20 Sie Todesursachenstatistik beruht auf den Angaben der Totenscheine und wird durch die statistischen Landesämter erhoben. Die Daten sind, auch durch die im Vergleich zu anderen Ländern sehr geringe Obduktionsrate in Deutschland, mit Vorsicht zu behandeln. Eine Untersuchung hatte beispielsweise für Suizide eklatante Abweichungen und Unterschätzung durch Fehlkodierungen gefunden. Interessant ist in dem Zusammenhang mit den "unbekannten Ursachen" die Aussage aus der Studie, dass ein Trend zur Diagnoseverschiebung auf den Totenscheinen hin zu „unklare“ und „unbekannte“ Todesursache bestehe. Also Suizide die "unklaren Todesursachen" bereichern. Der unerklärbare plötzliche Tod von Menschen zwischen 16 und 65 Jahren war Gegenstand einer englischen Studie. Danach war in 4,1% der plötzlichen Todesfälle keine Ursache zu finden. Der Rest konnte auf Herzerkrankungen zurückgeführt werden. In der Medizin hat sich für den unerklärbaren plötzlichen Tod von vornehmlich jungen Menschen der Begriff SADS (sudden arrhythmic death syndrome) etabliert. Eine neuere Untersuchung kam zu dem Schluss, dass SADS in England unterschätzt wird und ein Teil der plötzlichen Todesfälle mit unklaren Todesursachen darauf zurückzuführen sei. Die Autoren schätzten die Mortalität auf 0,16/100.000 über alle Altersgruppen. (ich werde mir morgen mal den Artikel besorgen). Die Forschungen sind recht spärlich, in der Regel werden familiäre/genetische Ursachen in Betracht gezogen.
Die Studie zur Klassifikation von Suiziden als R99 hatte ich auch gesehen aber aus Platzgründen ausgespart, diese unterstreicht nur die Unredlichkeit der Argumentation des PEI.
SADS ist unerwartet, aber post mortem meist nicht unerklärbar. Andere in dem verlinkten Artikel zitiierte Autoren verwenden den Begriff "Sudden unexplained death syndrome", was dem hier untersuchten Phänomen entspricht. Das verhält sich etwa wie bei der Diskussion SIDS vs. SUID (siehe die verlinkte Dissertation im Artikel), wobei im Fall SIDS noch das Problem mit der Altersgrenze von maximal einem Jahr hinzu kommt. Ich habe ausgesprochen geringes Vertrauen in die Todesursachenstatistik und halte es beispielsweise für denkbar, dass unerklärliche Todesfälle um des lieben Friedens willen und der Einfachheit halber beispielsweise auf eine Herzerkrankung zurückgeführt werden. Gerade bei älteren Patienten wird der Totenschein häufig vom Hausarzt ausgefüllt, während die trauernde Witwe daneben steht. Dann soll das PEI aber bitte auch in diese Richtung argumentieren und nicht so manipulativ wie in der Stellungnahme. >> Kommentieren paul-ehrlich-institut 2008-01-21 >> Kommentieren malamud 2008-02-06 Großes Kompliment zur Recherche
Der Beitrag wurde auch im aktuellen blitz-at vom 6.2. zitiert>> Kommentieren |
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