Parallelgesellschaft

"Pott" - das ist im hiesigen niederdeutschen Dialekt der Begriff für Topf. Als Abkürzung für "Ruhrpott" ist er mir lange nicht untergekommen - in den letzten Tagen hat diese Bezeichnung in der blogger-community jedoch Konjunktur. Grund ist der Silberstreif, den die Apologeten der neuen Internet-Medien-Revolution gerade am Horizont des Ruhrgebiets sehen, das sonst eher durch Arbeitslosigkeit, Immigrantenprobleme und Überalterung matt-grau schimmert.

Mein Weg nach Koblenz führte mich mich gestern mit dem Zug durch diese Region, in der die digitale Medienrevoltion, angeführt von der WAZ und in Person der angeheuerten neuen stellvertretenden Chefredakteurin, ihren Ausgangspunkt nehmen soll.

Eine Region, die bereit ist für den Umbruch sieht anders aus. Graue Bürobauten, die den heutigen Ansprüchen an Büroraum nicht genügen und in Frankfurt oder München schon längst geschleift worden wären. Menschen mit dem Durchschnitts-Chic, der von Bratislava bis Itzehoe konsensfähig ist. Häuser mit dunklen Dächern und nikotingetränkten Gardinen.

Beim Blick auf die Bahnsteige habe ich mir vorgestellt, dass diese Menschen demnächst im Lokalteil ihrer Zeitung einen groben Überblick lesen können und die "kleinteiligen" Informationen sich aus dem Internet holen werden. Das wird eine Entlastung für sie sein. Lokalteile auf BILD-Dortmund-Niveau. Vor lauter Freude werden sie vergessen im Internet ihren Teil zu der "Pott-Community" beizutragen. Stattdessen werden sich die Ruhrpottler in der Diaspora dort tummeln, die sich schon lange den wirtschaftlichen Realität gebeugt haben und nun in aller Welt den Geist des Ruhrgebiets - Tauben, Tanner, Pilsken Trinken - pflegen.

Dort treffen sie dann auf die blogger. Blogs, in denen 100x über dasselbe Rock-Konzert berichtet wird und kein einziges Mal über das neue Stück einer freien Theatergruppe. Die blogger werden mit den Exil-Ruhrpöttlern eine Community bilden, unscharfe Fotos austauschen, bloggen, kommentieren, verlinken und blogger-Treffen abhalten. 90% der Bewohner des Ruhrgebiets werden es nicht bemerken und auch nichts verpassen.

Auch eine Art Parallelgesellschaft.
 
[heile Welt]
Autor: strappato   2006-07-08   Link   (5 KommentareIhr Kommentar  


moneymaker   2006-07-08  
Oh Mann, ich glaube es nicht. Die Vorurteile der 60'er, 70'er Jahre über das Ruhrgebiet leben weiter. Ich bin selber Ruhri, lebe und arbeite hier .Klar gibt es triste Ecken bei uns und der Büroraum ist auch nicht so schick wie in Frankfurt, was daran liegt, dass Düsseldorf historisch der Schreibtisch des Ruhrgebietes war. Bahnhöfe gehören dazu. Aber es gibt noch mehr Ecken, die viel schöner sind als entsprechende locations in HH oder M. Schon mal was von der "Route der Industriekultur " gehört?

Integrationsprobleme? Aber sicher! Nur hier werden sie aktiv, nachdem ihre Existenz festgestellt wurde, aktiv angegangen. Die Mentalität der Leute hier lässt anderes nicht zu.

Überalterung? Wie im grossen Rest Deutschlands, zeitlich vorgeschoben, weil Politiker die Kohlekrise der 60'er nicht richtig gelöst haben und viele Bewohner weggezogen sind, um anderswo neue Arbeit aufzunehmen.

Ich garantiere, dass in 10-20 Jahren die OBs der anderen grossen Städte zu u n s kommen und fragen,wie wir die Probleme Integration und Überalterung gelöst haben.

Und der Chic? Ist sowieso nicht so wichtig. Darauf legen meist nur inkompetente Personen Wert, weil sie sonst nichts anderes haben. Auch die gibts bei uns, sonst könnten diverse Edelboutiqen, die ich so im Vorbeifahren registriert habe, nicht überleben.

Danke ,Herr Strappato, dass Sie nicht gesgt haben, dass Ruhris per definitionem blöde sind. Habe ich schon in Süddeutschland von promovierten Ingenieuren gehört und habe ihnen dafür einen Einlauf gemacht. Hätte ich dann bei Ihnen ja fairerweise auch machen müssen.

Übrigends,für meine selbständige Tätigkeit ist das Ruhrgebiet ideal, da meine Kunden in den Benelux-Staaten sitzen. Ist ziemlich nah dran.


strappato   2006-07-09  
Die Mutter meines Kindes kommt aus dem Rheinland und hat lange in Essen und Gelsenkirchen gearbeitet - durch die Wochenend-Fern-Beziehung ist mir das Ruhrgebiet nicht so fremd.

In Rhein-Ruhr leben nette Menschen und auch nicht so nette. Wie überall. Es gibt schöne Ecken, aber auch hässliche. Es gibt sicher schlechtere Orte in Deutschland zum Leben.

Was aber die Region auszeichnet, um ein Vorreiter bei der digitalen Medienrevolution zu sein, wird mir nicht klar. Die Vorrausetzungen sind hier doch eher mässig. Und das hat nichts mit der Intelligenz der Bewohner zu tun.


moneymaker   2006-07-13  
Das Ruhrgebiet ist kein "Vorreiter der digitalen Medienrevolution", wie Sie schreiben. Der Begriff ist doch sowieso irgendwie unsinnig und ich habe ihn auch nie erwähnt. Wir haben hier aber ausreichend Glasfaserkabel und andere Hardware, um die entsprechende Netzinfrastruktur aufzubauen bzw. zu verbessern, was wir auch tun. Am Linken Niederhein ist es da aber ganz düster. Die Leute dort können teilweise nicht einmal DSL-Anschlüsse betreiben, weil die Infrastruktur so mässig ist. Sie können in dieser Beziehung auch nicht auf "versteckte" Ressourcen zurückgreifen. Wenn dort ein Netzkabel verlegt werden soll, dann müssen erst mal die Kühe von der Weide gejagt werden. Das selbe gilt dort übrigends für Handynetze.

Das Bloggen ist sowieso die Sache der alten Leute nicht. Durch unsere Überalterung wird der Anteil dieser Gruppe natürlich grösser. Wir haben aber schon immer Zuzugswellen erlebt. Wir haben hier schon seit Mitte/Ende der 90`er eine recht grosse, wachsende Linux Community. Offensichtlich sind auch ältere Bewohner noch neuen Technologien aufgeschlossen. Und die WAZ-Foren? "Schaun mer mal", wie Kaiser Franz sagt. Die WAZ ist eine profitable Zeitung, die sich genau überlegt, was sie tut.

Alles in Allem ist das Ruhrgebiet aber keine Paralellgesellschaft.


tomsdiner   2006-07-16  
Das Ruhrgebiet in der Rolle des Vorreiters?

Ich hack da jetzt nicht mal großartig auf Digitale Medien und Internet rum. Der Technologiepark in Oberhausen dümpelt seit jahrzehnten still und leise rum. Man erinnert sich doch noch an den Flop mit den Digitalen Filmstudios die mit Hilfe von horrenden Landeszuschüssen dort entstehen sollten.
Vielleicht wäre Gelsenkirchen ein gutes Beispiel. Solartechnik auf höchsten Niveau. Leider hält weder Landes- noch Bundesregierung irgendwas von alternativen Energien. Also auch dort merh oder minder Stillstand.
Nun könnte man noch die Universitäten anführen. Sowohl Ruhr-Uni Bochum als auch Duisburg-Essen sind renomierte Institute. In Essen gibt es zwei Herzzentren mit weltweit guten Ruf.
Das Design-Zentrum in der Essener Zeche Zollverein ist bundesweit wohl einmalig. Auch hier weltweiter guter Ruf. Ebenso hat das Aalto-Theater, nicht zuletzt wegen seiner Nähe zur Folkwang Musik- und Theaterschule einen nicht zu unterschätzenden Ruf.
Leider alles nur Schall und Rauch. Vom guten Ruf alleine wird niemand satt.

Ja es gibt sie. Die renomierten und vorzeigbaren Perlen im Ruhrgebiet. Aber wenn es im Ruhrgebiet jemals einen ernsthaften Strukturwandel gegeben hätte, gäbe es heute keine Route der Industriekultur. Man hätte die alten Ziegelbauten einfach platt gemacht und etwas neues dafür hingesetzt. So hat man aus dem Ruhrgebiet ein riesengroßess Freilichtmuseeum gemacht. Mit allem was darin kreucht und fleucht.
Ein beschauliches Stückchen heile Welt aus dem vorherigen Jahrundert der Industrierevolution, konserviert mit Landes- Bundes- und EU-Geldern.

Und? Ist es schlimm das es Menschen gibt die auf eine weitere, digitale, Revolution verzichten können. Die mit dem zufrieden sind was sie haben und nicht jeden Trend hinterher hetzen. Die mittlerweile genug gestrukturwandelt worden sind, weil mit jedem Wandel auch ein Stück von dem verloren geht, was die Region ausmacht.

Ist es Neid, der die Bewohner der gesichtslosen Metropolen wie Frankfurt, München, Hamburg, Berlin usw. dazu veranlasst immer nur die grauen Fassaden und rauchende Schlote zu sehen?
Ich kann es verstehen wenn auswärtige Goldgräber denken sie könnten hier den einen oder anderen Nugget ausbuddeln. Aber das Ruhrgebiet ist, anders als die Retorten-Metropolen, eine gewachsene Struktur. Was hier steht und entstand, steht schon lange. Das Ruhrgebiet ist eine Region die ihre Stärke aus der Beständigkeit, nicht aus dem stehten Wandel schöpft.

Was sollen wir mit einer "digitalen Medienrevolution"? Etwas das man nicht anfassen, nicht riechen, nicht schmecken, nicht einmal sehen kann?
Digitale Medienrevolutionen sind schön und gut. Aber sie sind auch so vergänglich wie ein laues Sommerlüftchen. Das Ruhrgebiet formte sich aber nicht aus lauen Sommerlüftchen, sondern aus Kohle, Stahl und Kartoffelacker.


strappato   2006-07-16  
Die Perlen? Den Wissenschaftspark Gelsenkirchen haben die nur vollbekommen, indem die Kriterien zur Einmietung geändert wurden. Nun residieren da so innovative Unternehmen wie eine Arztpraxis zur Kinderwunschtherapie, IT-Service, Consultingfirmen, ein PR-Büro usw. Das Institut für Arbeit und Technik, das Teil des Wissenschaftszentrums NRW ist, wird demnächst aufgelöst. Mal sehen wer dann als Mieter reinkommt.

Ich würde sogar soweit gehen, dass überall die Menschen auf eine digitale Revolution verzichten können, zumindest in der Form, wie sie zur Zeit propagiert wird. Ich bin auch der Ansicht, dass das Ruhrgebiet eine denkbar schlechte Region für solche Medienexperimente wie das von der WAZ ist. Da wird viel kaputt gemacht werden. Nochmal zur Verdeutlichung: Die Parallelgesellschaft besteht aus den max. 10%, die dann die Lokalnachrichten im Internet verfolgen und kommentieren. Der Rest wird es nicht mitbekommen, weil es keinen Einfluss auf sein Leben hat. Er vermisst höchstens ein paar Lokalseiten in seiner Zeitung.








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