SiCKO - Himmel und Hölle Im Urban Dictionary finden sich acht Definitionen des Worts "Sicko". Den meisten gemeinsam ist, dass der Begriff eine psychisch kranke, perverse Person beschreibt. Nachdem "SiCKO" als Titel von Michael Moores neusten Projekt bekannt geworden war, wurde gemutmasst, dass sich der Streifen vornehmlich mit der Situation der psychisch Kranken beschäftigen würde. Angesichts der Schlagzeilen um Zyprexa, Prozac & Co. und die Vielzahl der Klagen und Schadensersatzzahlungen war das nicht abwegig - aber falsch. Im Grunde geht es in dem Film um das Recht auf Gesundheit und medizinische Versorgung, so wie es der "Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte" der Vereinten Nationen im Artikel 12 festschreibt. Offen bleibt, ob der Filmemacher "SiCKO" für seinen Dokumentarfilm über das US-amerikanische Gesundheitswesen auf das System bezieht oder auf die handelnden Personen. Nachdem ich den Film gesehen habe, würde ich sagen: Beides. Denn es ist unverkennbar ein Michael Moore Werk. Die Perversität des Systems wird runtergebrochen auf Personen, die dafür mit verantwortlich sind und deren Opfer. Typisch, doch nicht so typisch, da Moore grösstenteils auf aberwitzige Konfrontationen bei seinen Gesprächen und Begegnungen verzichtet. Zum einen, weil die "Gegenseite" nicht zu Wort kommt oder kommen will. Im Vorfeld gab es bei Pharmaunternehmen und Versicherungen generalsstabsmässige Anweisungen, wie mit Moore umzugehen sei, wenn er überraschend vor den Türen auftauchen würde. Zum anderen braucht er keine künstliche Zuspitzung: Beim Thema Gesundheit geht es um Leben oder Tod. Das macht Moore auf bedrückende Weise immer wieder deutlich. Und in in den USA gewinnt unnötigerweise oft der Tod. Für Moore tragen Schuld daran die Politik, die Krankenversicherungskonzerne und die Pharmaindustrie. Gleich zu Beginn stellt er fest, dass der Film nicht über die fast 50 Millionen Unversicherten handelt, sondern das Schicksal der restlichen 250 Millionen US-Bürger auf der vermeintlich sicheren Seite beleuchtet. Patienten, denen Ansprüche mit Verweis auf verheimlichte Vorerkrankungen gestrichen werden, die im Notfall erst ein vom Versicherer genehmigtes Krankenhaus finden müssen, denen etablierte aber teuere Therapien mit der Begründung "experimentell" verweigert werden, die noch im hohen Alter eine Beschäftigung ausüben, nur im ihre Krankenversicherung nicht zu verlieren oder die einfach "gedumpt" werden, wenn die drohende Krankenhausrechnung von der Versicherung nicht gedeckt wird - aus dem Krankenwagen direkt vor die Türen einer kommunalen Klinik geworfen. Mit dem US-Gesundheitswesen hält sich Moore nur rund die Hälfte der zwei Stunden auf. Die restliche Zeit zeigt er, wie Gesundheitsversorgung besser laufen kann: In Kanada, England, Frankreich und Kuba. Für die Lobbyisten regiert dort der "Sozialismus", und das nicht nur auf Kuba. Der Film nimmt dies ironisch auf, inklusive Übergangsszenen aus kommunistischen Propaganda-Filmen. Zu Wort kommen Amerikaner, die - mit Ausnahme von Kuba - in diesen Ländern leben und recht froh sind, von den Vorteilen des sozialistischen Gesundheitssystems zu profitieren, oder auch ein schlechtes Gewissen haben, wenn sie an Eltern, Freunde und Verwandte denken, die dem US-Gesundheitssystem ausgeliefert sind. Klar, der Film polarisiert. Auf der einen Seite die menschenverachtende US-Versicherungsmafia und im Gegensatz dazu paradiesische Zustände in anderen Ländern. Ohne Wartezeiten und Zuzahlungen, mit Hausbesuchen und engagierten Personal. In Europa wissen wir, dass alle Gesundheitssysteme, ob steuerfinanziert oder auf einer solidarischen Krankenversicherung basierend, mit ausufernden Kosten zu kämpfen haben. Dass dies möglichst nicht zu Lasten der Patienten geht, ist die eigentliche Leistung in diesen Ländern, was nach dem Film deutlich wird. Das hätte Moore nachdrücklicher herausarbeiten können. Denn hier ist auch der Angriffspunkt für die Kritiker von SiCKO. David Gratzer, ein Marktradikaler und Autor eines Buchs mit dem Titel: "The Cure: How Capitalism Can Save American Health" schlachtet im Wall Street Journal genüsslich die Tatsache aus, dass in allen von Moore vorgestellen Ländern versucht wird, mit mehr Wettbwerb die steigenden Kosten für die Gesundheitsversorgung in den Griff zu bekommen. Was hat das auf Markt ausgerichtete System in den USA bisher gebracht? Nach einer aktuellen Studie mussten 43,6 Millionen US-Amerikaner zum Zeitpunkt der Befragung ohne Krankenversicherung auskommen, 54,5 Millionen, oder 18,6% der Bevölkerung, zumindest zeitweise während des vergangenen Jahres. 56 Millionen Bürger haben keinen Zugang zu hausärzlichen Versorgungsangeboten. Der Pariser Arzt in SiCKO, der im ärztlichen Notdienst Hausbesuche absolviert, muss den Amerikanern wie Science Fiction aus einer Parallelwelt vorkommen. Das ist Moores Trick, wie SiCKO die Diskussion in den USA beeinflussen könnte. Moore beschränkt sich nicht aufs Attackieren, er zeigt US-Bürgern, die England oder Frankreich nicht auf einer Weltkarte finden würden, dass es Alternativen mit zufriedenen Patienten gibt. Zur Zeit befriedigt das US-Gesundheitswesen hauptsächlich die Ansprüche von Versicherungen, Pharmakonzernen, Ärzten, Kliniken, Anwälten, und nicht zuletzt Unternehmen, die zunehmend die medizinische Versorgung ihrer Angestellten organisieren. Wobei dort die Arbeitskraft im Vordergrund steht und nicht der Mensch. Wer sich nicht an Gesundheitschecks und Vorsorgeprogramme beteiligt, ist schnell aus dem System wieder draussen oder muss im Krankheitsfall erhebliche Zuzahlungen leisten. Auf einem so lukrativen Feld sind auch IT-Unternehmer nicht weit. Beispielsweise AOL-Gründer Steve Case, der so illustere Aufsichtsratmiglieder wie Carleton Fiorina (Ex-HP-Chefin), Franklin Raines (Ex-Chef der weltgrössten Hypothekenbank Fannie Mae) oder Colin Powell (Ex-US-Aussenminister) für sein Projekt "Revolution Health" gewonnen hat, oder Intel-Mitgründer Andi Grove, der sich Gedanken für die Gesundung des Medizinbetriebs macht. Beiden gemeinsam ist, dass sie die Lösung in der Nutzung der Informationstechnologie und des Internets und im Aufbau von wohnortnahen Kliniken für die Grundversorgung sehen. High-Tech-Medizin bleibt den gut Versicherten vorbehalten. In Europa würden Patienten dies als Rückschritt sehen und es ist von Michael Moores Visionen meilenweit entfernt. Jedoch werden die Geschäfte der Versicherungsbranche und der Pharmaindustrie nicht beeinträchtigt. Bleibt die Frage, warum wir in Deutschland uns mit Michael Moores Dokumentation beschäftigen sollen. Die USA ist genauso wenig die Gesundheitshölle, wie Deutschland der Versichertenhimmel. SiCKO sollte dazu motivieren, weiterhin für die Beachtung der Grundsätze des professionellen ärztlichen Handelns von allen Beteiligten in unserem Gesundheitswesen zu kämpfen.
[SiCKO]
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