SiCKO in den Feuilletons Am nächsten Donnerstag läuft Michael Moores Film SiCKO über das US-amerikanische Gesundheitswesen in Deutschland an. In Österreich einen Tag später. Die deutschsprachigen Fäuletons tun sich schwer mit dem Streifen. Thomas Assheuer stellt in der Zeit fest, dass er Anklage gegen unterlassene Hilfeleistung, gegen all die pathologischen Schändlichkeiten, die entstehen, wenn öffentliche Güter für ein Geschäft auf Leben und Tod schamlos privatisiert werden ist - das geht natürlich nicht ohne auf die Lage der armen Hartz IV-Empfänger in Deutschland hinzuweisen. Irgendjemand muss ihm davon abgeraten haben, das Vermächtnis rot-grüner Politik in Augenschein zu nehmen, jene landestypische Hartz-IV-Familie, die ihr Kind mit 2,90 Euro am Tag durchbringen muss. Doch so oder so – der amerikanische Zuschauer muss den Eindruck gewinnen, er selbst friste sein Dasein in einem bis unter die Zähne bewaffneten Entwicklungsland, während Europäer wie die Made im Speck des Sozialstaats leben, unbehelligt von Konzernen, Pharmariesen und anderen Plagegeistern. Bei der Autorin im Gesundheitsblog der Zeit fühlt man Distanz. Der Streifen ist eine typische Entblösung à la Moore, die ziemlich unverblümt schwarz-weiß malt und im letzten Drittel furchtbar nervt - aber doch irgendwie genial bleibt. Jungle World versucht Hintergründe zu erklären, aber weist auf die Schlechtigkeiten in anderen Ländern hin, die als vermeintliches Vorbild dienten. So stellt sich am Ende die Frage: Was will Moore eigentlich bezwecken? Er prangert Umstände an, deren Skandalträchtigkeit niemand bestreitet. Er legt Alternativen nahe, die bei genauerer Betrachtung recht zweifelhaft erscheinen. Schlüssig wird der Film deshalb erst gegen Ende. Der Regisseur hebt zur finalen Mahnung an: "In anderen Ländern übernimmt man Verantwortung füreinander, über alle Unterschiede hinweg. Die Menschen dort leben in einer Welt des ›Wir‹ und nicht des ›Ich‹." Die abschließenden Worte, und nicht nur sie, verströmen den Mief der autoritären Sozialdemokratie: Der Gemeinschaftssinn soll den krank machenden Individualismus im Zaum halten. Der Standard aus Wien hat einen Gesundheitsökonomen geholt, der die von Moore gezeigten Missstände bestätigt und sich für die gezeigte Lösung durch ein steuerfinanziertes System erwärmen kann. Der Vergleich mit dem eigenen Gesundheitswesen bleibt nicht aus. So gut geht es also Österreich auch wieder nicht. Dass Jahr für Jahr zwei Milliarden Dollar in das US-Gesundheitssystem fließen und damit auch die politischen Kassen der Profiteure prall gefüllt sind, ist für Köck das größte Reformhindernis. In diesem Punkt sieht er eine Parallele zum österreichischen Gesundheitssystem, das er mittlerweile als "unreformierbar" ansieht: "Wir haben die gleichen Probleme wie vor zwanzig Jahren, sie werden nur größer" Das ARD-Kulturmagazin titel, thesen, temperamente erkennt, dass der Film für Amerikaner gemacht ist. Erst wenn der Regiseur mit den 9/11-Veteranen nach Kuba zur Behandlung fährt, kommt das aberwitzige, so sehr erwartete Moore-Feeling auf. Enttäuscht klingt das Fazit: Es gibt Schlimmeres als 10 Euro Praxisgebühr. Die Welt hatte beim Start in den USA noch wohlwollend über den Film berichtet. In Europa angekommen, erweist er sich als eine dreiste Manipulation für den Kritiker der Welt. Autor Sven von Reden bleibt der erste Teil des Films unverständlich und erst die Kuba-Reise bestätigt die Vorurteile. Moore ist wie immer ein Meister darin, sein Anliegen mit viel Populismus und Humor unterhaltsam zu verkaufen, aber letztlich behandelt er seine Zuschauer nicht viel anders als die amerikanischen Krankenversicherungen ihre Kunden. Wo bei Versicherungsgesellschaften wie Kaiser Permanente der Profit alle Mittel heiligt, ist es bei Moore der gute Zweck - den er ganz nach seinen Vorstellungen definiert. Die Ambivalenz, die in dem Film steckt, sieht Christoph Huber in der Presse aus Österreich. Moores bester und schlechtester Film. Moore hat prinzipiell recht, setzt ein paar gute Pointen, aber übertreibt hemmungslos. Immerhin wirft Sicko endlich für ein nichtamerikanisches Publikum mehr ab, als nur US-Dummheit vorzuführen: Trotz Unglaubwürdigkeit („Wie lange mussten Sie warten?“ – „10 Minuten!“) wird unmissverständlich klar, was bei Einsparungen im Gesundheitssystem auf dem Spiel steht, und wo es im Extremfall enden könnte: auf der Strasse. Der Journalist der Nachrichtenagentur ap weist auf die nach seiner Meinung fragwürdigen Methoden des Filmemachers hin, hat gleichwohl die Botschaft verstanden. Als Fazit bleibt, dass Moore sich hier als formal ausgereifter Filmemacher präsentiert, der mit einfallsreicher Montage, Musik, und einem perfekten Gefühl für Timing aus 500-stündigem Material zwei satirische und äußerst unterhaltsame Stunden destilliert - deren Wahrheitsgehalt indes zweifelhaft ist. In der hiesigen Privatisierungsdebatte jedoch und angesichts der sich vertiefenden Kluft zwischen Erster- und Zweiter-Klasse-Krankenversicherten ist allein die Fehleranalyse dieses "Dokutainments" eine Kinokarte wert - und die Diskussion um Moores Schlussfolgerungen sowieso. Und aus meiner Besprechung hier im blog Ende Juni. Klar, der Film polarisiert. Auf der einen Seite die menschenverachtende US-Versicherungsmafia und im Gegensatz dazu paradiesische Zustände in anderen Ländern. Ohne Wartezeiten und Zuzahlungen, mit Hausbesuchen und engagierten Personal. In Europa wissen wir, dass alle Gesundheitssysteme, ob steuerfinanziert oder auf einer solidarischen Krankenversicherung basierend, mit ausufernden Kosten zu kämpfen haben. Dass dies möglichst nicht zu Lasten der Patienten geht, ist die eigentliche Leistung in diesen Ländern, was nach dem Film deutlich wird. -- Als Hintergrundinformation noch ein link zu einer Sendung des Deutschlandfunks. [SiCKO]
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