SiCKO in den Feuilletons

Morgen läuft Michael Moores Film SiCKO über das US-amerikanische Gesundheitswesen in Deutschland an. In Österreich am Freitag. Weiter geht es mit Reaktionen in den Medien.

Hier war der erste Schwung.
Hier war der zweite Teil.
Hier war der dritte Teil.


Für Joachim Hentschel in der FAZ hält SiCKO für einen absolut haarsträubenden, ärgerlichen Film.
Nein, nur weil er tendenziell auf der humanistisch und politisch guten Seite steht, muss man Michael Moores Populismus nicht verteidigen. Ob er die kubanischen Pro-Kopf-Gesundheitsausgaben korrekt zitiert, ob er die Nöte europäischer Kassenpatienten verschweigt und sich - übrigens ein ziemlich hirnrissiger Vorwurf an einen Dokumentarfilmer - nur die Fälle herauspickt, die ihm in den Kram passen, das ist nicht der Punkt. „Sicko“ zeigt doch vor allem, wie irrsinnig viel Platz im Vorwahlkampf-Amerika selbst noch rechts der Mitte sein muss, wenn ein prominent Liberaler wie Moore schon reiche Ärzte als Gewährsleute auftreten lässt und am Ende sogar das Mitleid mit den erkrankten Helfern nach den Terroranschlägen für seinen Argumentationsgang nutzt.

Susanne Ostwald verweist in der NZZ gleichfalls darauf, dass Moore sich einem Missstand widmet, der hinlänglich bekannt ist. In dem Film sieht die Jourmalistin lediglich die bekannte penetrante Selbstbeweihräucherung.
Vollends lächerlich wird Moores Feldzug, wenn er mit «Helden» des 11. September, die seit ihrer Mithilfe bei den Bergungsarbeiten unter Gesundheitsproblemen leiden und keine Unterstützung erhalten, nach Guantánamo segelt, weil die Gefangenen dort angeblich bestens medizinisch versorgt werden. Als er erwartungsgemäss abgewiesen wird, begibt er sich mit seinen Mitreisenden in die Hände des kubanischen Gesundheitswesens, die ihm freilich freudig entgegengestreckt werden. Denn nur Fidel Castro versteht sich besser auf antiamerikanische Propaganda als Michael Moore.

In der Netzeitung wird SiCKO von Sophie Albers als "Film der Woche" vorgestellt.
Versprechungen an den Realitäten zu messen und unbedingt beim Wort zu nehmen ist eine Kunst, die Moore virtuos beherrscht. Dass es zuweilen zum cheap shot verkommt, sollte man nicht den Bösen zu Gute halten, die Moore immer wieder mit Namen und Adresse nennt. Er nutzt die gleichen Mechanismen wie die, die er angreift. Aber er deckt dabei eben tatsächlich auch auf. Und dieses Ad-absurdum-Führen der Werbebildchen der egozentrisch-kapitalistischen Gesellschaft ist immer wieder sehr befreiend. Man darf diesen Propaganda-Elefanten nur nicht zu ernst nehmen.

Besonders die emotionalen Momente beeindrucken Jana Blanck, die für die Märkische Allgemeine eine Besprechung verfasst hat.
Dennoch sollte man froh sein, dass es die Nervensäge Michael Moore und Filme wie "Sicko" gibt, denn er reicht trotz allem wichtige Themen an ein breites Publikum weiter und deckt katastrophale Missstände in den USA auf. Auch wenn diese Dokumentation alles andere als objektiv ist, ist sie dennoch empfehlenswert.

Dass SiCKO in Europa nicht die thematische Brisanz der vorigen Filme Michael Moores hat, bemerkt Karin Zintz in der Wormser Zeitung.
"Sicko" funktioniert in Ländern mit einem besser funktionierenden Gesundheitssystem eher anders herum: Der deutsche Zuschauer freut sich darüber, dass er trotz Praxisgebühr und Arzneimittelkosten überhaupt noch so gut und günstig versorgt wird.

Jessica Düster im Kölner Stadt-Anzeiger scheinen besonders die tragikkomischen Szenen zu gefallen.
Bei Moores Bildungsreise durch die vermeintlichen Versicherungsparadiese Frankreich und Großbritannien können einem auch als deutschem Kassenpatienten die (Lach-)Tränen kommen. Insgesamt ist diese Sendung mit der dicken, frechen Maus eher darauf ausgerichtet, ein amerikanisches Publikum aufzuklären. Dem Unterhaltungswert ist das dennoch kaum abträglich - besonders im gekonnt zwischen Irrwitz und Tragik pendelnden Finale, in dem der Typ mit der Baseball-Mütze ganz lässig allen Kritikern seiner Methoden vorführt, warum er so einflussreich ist.

Der Zweck heiligt die Mittel, so der Tenor von frida in opinio, dem Leserportal der Rheinischen Post.
Natürlich geht es bei einer solchen Aktion für Michael Moore auch um propagandistische Zwecke. Aber er ist nunmal ein bekennender Polemiker und scheut sich auch nicht, auf dem Emotionsklavier die Noten rauf und runter zu spielen. Was auch nicht zu verurteilen ist, denn mit nackten Daten und Fakten allein erreicht man tatsächlich niemanden. Da wir alle gerne vernunftgesteuert wären, tatsächlich aber emotionsgesteuert sind, brauchen wir halt die krebskranke Frau, die nach Kanada fährt mit dortigem „Schein“-Lebensgefährten zwecks kostenloser Behandlung, um unser Interesse wecken zu lassen.

Dem Autor des Jugendmagazins chilli.cc aus Österreich fehlen die Überraschungsmomente.
Zum einen beweist Moore, auch abseits wütender politischer Propaganda sehenswerte und nachdenkliche Dokumentationen produzieren zu können, zum anderen allerdings versinkt er hierbei zu oft in schamloser Emotionalisierung, die kaum etwas zur Argumentation beiträgt aber zumindest aufwühlt. So ist „Sicko“ kein Meisterwerk á la „Roger & Me“ oder „Bowling for Columbine“, aber auf jeden Fall eine sehenswerte Dokumentation mit genügend Denkanstößen, um auch nachhaltig im Gedächtnis des Zusehers zu verweilen.

Markus Grill nutz SiCKO im Stern zu einer Generalabrechung mit der Pharmaindustrie und dem Trend zur Privatisierung im Gesundheitswesen.
In Deutschland sorgt die Gier der Pharmamultis nur dafür, dass Kassenbeiträge steigen und weniger Geld für Ärzte und anderes zur Verfügung steht. Noch kann Europa stolz auf sein staatliches Gesundheitssystem sein. Doch je mehr wir den Phrasen der Privatisierungs-Ideologen erliegen, je weniger wir uns für Gesundheitspolitik interessieren, desto schneller werden wir am eigenen Leib erleben, was wir jetzt noch mit Schaudern im Kino sehen.

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Ein Tipp für die Leser aus Österreich: Als Mitglied der Gewerkschaft der Gemeindebediensteten kommt man zum Sonderpreis von 5 Euro in den Film. Wie ich unser Nachbarland liebe.
 
[SiCKO]
Autor: strappato   2007-10-11   Link   (0 Kommentare)  Ihr Kommentar  








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