Zwangsvorstellung beim Hausarzt

Relativ unbemerkt von der nicht-medizinischen Öffentlichkeit ist die Diskussion um den neuen Einheitlichen Bewertungsmassstab (EBM) für die niedergelassenen Vertragsärzte abgelaufen. In ihm ist festgelegt, wie ab 1.1.2008 die Leistungen abgrechnet werden dürfen. Immer noch geschieht es auf Basis von Punktwerten, die dann je nach Region, Fachgruppe und Quartal unterschiedlich viele Euro wert sind.

Der letzte EBM - EBM2000plus, jahrelang bitter umkämpft und am Ende als Jahrhundertwerk gefeiert, hat nicht einmal 3 Jahre durchgehalten. Das neue Werk wird auch nicht länger Bestand haben, da in der Gesundheitsreform ein Wechsel von den Punktwerten zu festen Preisen ("EURO-EBM") zum 1.1.2009 beschlossen worden ist. Dann sollen Morbidität der Versicherten, die Kostenentwicklung in den Praxen und die Leistungsverlagerung aus dem stationären in den ambulanten Bereich stärker berücksichtigt werden.

Einen Vorgeschmack, was Arzt und Versicherte erwartet bietet der EBM 2008. So ist eine neue Ziffer (03212) als Morbiditätszuschlag für chronisch kranke Patienten aufgenommen worden. 495 Punkte im Quartal erhalten Hausärzte damit extra. Was umgerechnet immerhin rund 25 Euro ausmachen wird. Hört sich gut an, hat aber einige Pferdefüsse.

Chronisch erkrankte Patienten sind nur diejenigen, die den Vorgaben der Chroniker-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) entsprechen. Im Zweifel entscheidet die Krankenkasse. Der Patient muss wegen der Krankheit ein Jahr lang mindestens einmal im Quartal behandelt worden sein. Zusätzlich muss diese Erkrankung zu Pflegebedürftigkeit oder zu Behinderung und Minderung der Erwerbsfähigkeit geführt haben, oder eine kontinuierliche medizinische Versorgung erfordern, ohne die der Zustand dauerhaft oder lebensbedrohlich schlimmer würde.

Obligater Leistungsinhalt sind mindestens zwei Kontakte zwischen Arzt und Patient im Quartal. Demnächst wird der Hausarzt diese Patienten in jedem Fall 2x im Quartal einbestellen und mit Recall-Methoden versuchen, die Besuche sicherzustellen. Denn wenn ein Quartal ausgelassen wird, ist die Pauschale für vier Quartale weg. Zwangsvorstellung wie bei Musterungsterminen.

Zu befürchten ist, dass am Ende des Quartals schon mal die Termine knapp und die Wartezimmer voll werden, wenn der Hausarzt sich die Pauschalen sichern will. Der Weg in den Euro-EBM ist der Weg in die Pauschalen und Leistungskomplexe. Nicht, dass jemand 2010 ankommt und sagt: Das haben wir nicht gewusst.
 
[Ambulante Versorgung]
Autor: strappato   2007-11-25   Link   (5 KommentareIhr Kommentar  


gn8   2007-11-27  
Bessere Ideen?
Durchaus zumutbar halte ich die mehrmaligen Arztkontakte als ein Indiz für das Vorliegen einer chronischen Krankheit. Und zwei Termine für 25€ halte ich auch für den Arzt für zumutbar. Und wenn er zuviel Chroniker zulange warten lässt: dann verliert er vielleicht ein paar Euro für eine schmerzlich lange Zeit. Keine Schwierigkeiten dürfte der service- und patientenorientierte Arzt mit ein wenig guter Organisation haben. Wir werden es beobachten. Und wir werden reagieren. Denn: hoffentlich schreibt er nicht doppelt soviel Rezepte wie heute.


strappato   2007-11-27  
Beim chronisch Erkrankten mögen zwei Hausarztbesuche im Quartal sinnvoll sein. Jedoch zeigt es, dass Pauschalen und Komplexe eng an Kriterien gekoppelt sind. Die müssen nicht immer den Bedürfnissen der Patienten und der medizinischen Notwendigkeit entsprechen. Wenn dies die Konsequenz des Euro-EBM ist, halte ich die derzeitige "Muschelwährung" für nicht die schlechteste Lösung.


gn8   2007-11-27  
Nur Geld steuert
Natürlich kann das immer auch mal keinen Sinn machen (wenn man nur Besuchszahlen abhakt). Aber leider sind „die Ärzte“ nur mit Geld zu steuern. Alle anderen, auch bei vernünftigen Menschen erprobten, Steuersysteme versagen bei Ärzten. Und da sie auch selbst nicht in der Lage sind das zu ändern (wer ist schließlich mit seinen eigenen Vertretern unzufriedener als eben jene?) muss jemand anders ins Steuer greifen. Und es ist schwierig, so vom Beifahrersitz (Kassen) oder Rücksitz (Patienten) aus.


hockeystick   2007-11-27  
Welche Steuersysteme außer Geld haben sich denn bei Nichtärzten bewährt? Mal abgesehen von der Bäckertaufe.


gn8   2007-11-27  
Ruhm und Ehre
… dafür sind Ärzte auch empfänglich, aber es reicht bei weitem nicht zum Steuern des Systems (während Politiker z.B. mit der Zahl der Interviews und der Erwähnungsdichte in Pressespiegeln bereits was anfangen können). Aber einverstanden, bei der nächsten Gelegenheit bringe ich auch diese Bäckerblume oder wie das nochmal heißt in die Diskussion ein, versprochen.








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