Das Pharmakartell - ein Nachtrag

Am Dienstag hat das ZDF das "Pharmakartell" präsentiert. Vorab: Die Dokumentation war eindrucksvoll. Inhaltlich konnte die Reportage Schwächen nicht verbergen. Das fängt bei dem Titel "Kartell" an. Ein Begriff, der Verbindungen mit gleicher Zielsetzung beschreibt. Was der Komplexität der Pharmaindustrie nicht gerecht wird.

Die Redaktion hatte merklich Schwierigkeiten angemessene Gesprächspartner vor die Kamera zu bekommen. Hier im Blog hatte eine Autorin es auch probiert - ohne Erfolg. So konnte man die bekannten Experten bewundern, die immer im TV auftreten, wenn es kritisch um die Pharmaindustrie geht, was die Expertise nicht schmälert. Der ehemalige Lilly-Manager ist auch nicht erstmals vor die Kamera getreten. Bei Youtube ist er seit Januar 2007 vertreten und kündigt sein Buch an.

Die betroffenen Unternehmen und Einrichtungen antworteten auf die Dokumentation mit Richtigstellungen.

Strattera
Zweifel sind bei der Geschichte mit dem ADHS-Medikament Strattera des Unternehmens Lilly aufgekommen. Bei näherer Betrachtung reduzieren sich die vier Todesfälle auf einen Bericht über einen vollzogenen Suizid. Dieser Fallbericht stellt das BfArM folgendermassen vor:
Ein 16jähriger Patient wurde wegen ADHD von September – Oktober 2005 mit Strattera behandelt. Bei diesem Patienten bestanden weitere psychische Erkrankungen, weswegen er stationär behandelt wurde. Nach Absetzen der Therapie und etwa eine Woche nach Entlassung aus der Krankenhausbehandlung verstarb der Patient durch Suizid (Fall-Nummer 05018404).
Ein weiterer dem BfArM berichteter Fall bezieht sich auf ein 3-jähriges Mädchen aus den USA, das nach unbestätigten Angaben nach Einnahme von Strattera verstarb. Der Fall wurde von einem Arzt berichtet, der seinerseits von Kollegen von diesem Fall gehört hatte. Es liegen keine weiteren Informationen zu diesem Fall vor (Fall-Nummer 07061104).

Lilly verweist in einer Pressemitteilung darauf, dass bereits im Rote-Hand-Brief zu Strattera aus dem Jahre 2005 auf das Thema Suizidalität hingewiesen und einen entsprechenden Warnhinweis in die Fach- und die Gebrauchsinformation aufgenommen worden seien.

Eine im Filmbeitrag verwendete Aussage des Patientenbeauftragten im Gemeinsamen Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen bezeichnete das Unternehmen als "grob unwissenschaftlich und zudem unverantwortlich", da dort eine Nutzen-Risiko-Bewertung ohne Kenntnis von Einzelfällen vorgenommen worden sei.

Auch die in der Sendung gezeigte Selbsthilfegruppe ADHS-Deutschland distanziert sich von der Darstellung. Die 6.500 Euro zweckgebunde Spenden des Pharmakonzerns Lilly, mit der die Abhängigkeit des Verbandes belegt werden sollte, würden nur einen Bruchteil des Etats von ADHS-Deutschland ausmachen. Die Beziehungen zwischen Pharmaindustrie und Selbsthilfe sind kritikwürdig, nur hat die Redaktion sich wie es aussieht hier einen Verband gesucht, der in Sachen Transparenz eher vorbildlich ist. Ein weiteres Indiz, dass das Vorgehen des ZDF nicht ganz sauber war, findet man in einem ADHS-Forum. Dort schildert der Gesprächspartner in der Beratungsstelle den Undercover-Besuch.
Bei mir war vor ca. 4 Wochen ein älterer Herr "Lange" zu einem Beratungsgespräch wegen seiner 17jährigen Tochter. Er kam sehr schnell auf eine mögliche Medikation zu sprechen und fragte mich detailiert zu mir bekannten Nebenwirkungen von Strattera aus. Auch wollte er plötzlich wissen, ob Lilly schon an mich herangetreten sei wegen einer möglichen finanziellen Unterstützung. Ich verwies auf die mir bekannten Suizidfälle ("Finden Sie denn 2 Fälle bei einer so großen Testgruppe so schlimm?" meinte er) und auf in unserer Gruppe aufgetretene Probleme hin und meinte dann noch, dass wir uns grundsätzlich selbst finanzierten und ganz bestimmt kein Geld von irgendeinem Pharmaunternehmen annehmen würden.
Wenn das den Tatsachen entspricht, wäre dies kein sauberes journalistisches Vorgehen.

Fluoxetin
Zu den geschilderten Unregelmässigkeiten bei der Zulassung von Fluoxetin ("Prozac") und die Todesfälle bei der Behandlung mit dem Antidepressiva hat das BfArM sein Schreiben an die Frontal21-Redaktion ins Internet pdf-Dateigestellt. Dem kann man entnehmen, dass die Autoren des ZDF-Beitrags eher tendenziös mit den Informationen umgegangen sind.

Redaktionelle Werbung
Am überzeugensten war aus meiner Sicht der Teil, in dem die Redakteure vorgaben, ein Pharmaunternehmen zu haben und eine Werbekampagne für das neue Antidpressivum des fiktiven Unternehmens - Volazin - zu planen.

Natürlich hat dies speziell beim Verlag "Wort & Bild", der die Apothekenumschau verantwortet, zu Widerspruch geführt. Beispielsweise würde in dem Artikel, der in dem "Frontal 21"-Beitrag in die Kamera gehalten wird, explizit darauf hingewiesen, dass die neuartigen Antidepressionsmedikamente "keine Wundermittel"(Zitat) sind. Mögliche Nebenwirkungen ("Vermehrte Unruhe, Angst und gesteigerte Aggressivität") würden genannt und abschliessend auch auf die Gefahr eines möglichen Suizidversuchs hingewiesen.

Was bleibt? Eine wichtige Dokumentation, die jedoch durch allzu forsches und auf Skandal bedachtes Vorgehen sich selber zum Teil diskreditiert hat.

--
Update

Die Redaktion von Frontal21 nimmt Stellung zu den Vorwürfen, das ZDF "inszeniere" die Aufregung um ein ADS-Medikament.

Prof. Peter Schönhöfer stellt aus seiner Sicht die Lilly-Pressemitteilung richtig.
 
[TV-Magazine]
Autor: strappato   2008-12-11   Link   (11 KommentareIhr Kommentar  


hockeystick   2008-12-12  
Die Verdachtsfälle wurden vom Bundesinstitut selbst mit folgenden Fallnummern versehen: DE-BFARM-05018404, DE-BFARM-06036075, DE-BFARM-06045681, DE-BFARM-07061104.

Interessant. Ich bin gespannt auf die Richtigstellung der SZ.


hockeystick   2008-12-21  
aus einem "blitz-a-t" der arznei-telegramms vom 19.12.:
Die Verlautbarungen des BfArM sind nach unserer Kenntnis der Daten nicht nur scheinheilig, sondern irreführend: Tatsächlich dokumentiert die Behörde vier Todesfälle in Verbindung mit Atomoxetin, die vier Kinder unterschiedlichen Alters betreffen und unter vier verschiedenen BfArM-Nummern erfasst sind. Entsprechende Datenausdrucke der Behörde liegen uns vor. Zwei dieser Berichte lässt das BfArM jedoch unter den Tisch fallen, weil sie nicht aus Deutschland stammen. Zunächst waren sie aber irrtümlich als Fallberichte aus Deutschland angesehen und gelistet worden (5). Dass sie aus Deutschland stammen, wurde in der Sendung allerdings auch gar nicht behauptet. Warum die Meldungen zunächst irrtümlich fehlkodiert wurden und warum einer der beiden "übrig gebliebenen" Verdachtsberichte, der ein Mädchen aus den USA betrifft (3), weiterhin aufgeführt wird, bleibt trotz Nachfrage bei der Behörde unklar. Nicht nachvollziehbar ist zudem, dass das BfArM ihm bekannt gewordene Verdachtsfälle mit Todesfolge, die nicht aus Deutschland stammen, einfach ausblendet. Und was ist davon zu halten, wenn der Leiter der Abteilung Pharmakovigilanz im Hinblick auf 237 Verdachtsberichte zu dem Mittel behauptet, das sei "nicht viel angesichts der Häufigkeit, mit der STRATTERA verschrieben wird" und anschließend fortfährt: "Über ADS-Mittel werden zudem mehr Nebenwirkungen berichtet, weil das Leiden so im Blickpunkt steht" (4)? Pharmako-Abwiegelanz à la BfArM!



hockeystick   2008-12-12  
Zum Thema Apothekenumschau:

Meedia mit einer Zusammenfassung der Passage.

Niedlich der Beitrag von "Zapp":
Jetzt aber gibt es einen schlimmen Verdacht: Nach Recherchen der ZDF-Kollegen könnte mancher Bericht in diesem Blatt gekauft sein.
Man glaubt es ja kaum.

Also dass solche seriösen Interviews wie dieses hier womöglich gekauft sein könnten, hätte ich mir nie vorstellen können.

Und wenn doch, kann man dann wenigstens der Stiftung Rufzeichen Gesundheit noch trauen?


sil   2008-12-15  
Blöde Frontal-Sendung
Die Sendung war schlecht.
Von der Aufmachung her könnte es auch ein Propagandavideo von Scientologys "Kommission für Verstösse der Psychiatrie gegen Menschenrechte" gewesen sein. Bei denen ist Dr. Virapen übrigens auch schon aufgetreten.
Schlankheitsmittel, der 20. ACE-Hemmer, der 40. Betablocker oder Cholesterinsenker wären bessere Themen gewesen.

Mir sind im Netz in letzter Zeit einige ADSler über den Weg gelaufen. Die haben auch ohne diese Sendung schon genug mit Vorurteilen zu kämpfen. Niemand ist stolz darauf, etwas mit dem Kopf zu haben.
Eine Spende an einen gemeinnützigen Verein als korruption anzusehen, ist mindestens Ansichtssache. Wenn die Firmen zur Unterstützung von ehrenamtlicher Tätigkeit kein Geld lockermachen würden, könnte man das genauso gegen die verwenden.

Kaum verholene Werbung im redaktionellen Teil ist wirklich ein Problem. Die Stelle fand ich sogar plausibel.


hockeystick   2008-12-15  
Der Virapen/Rengen-Auftritt bei den Scientologen war ja hier im Blog ein Thema.


sil   2008-12-15  
Danke.
So lange lese ich hier noch nicht mit.


strappato   2008-12-15  
Um bei den ADSlern anzuecken braucht es nicht viel. In einem ADHS-Forum wurde das blog hier im Zusammenhang mit der Fromtal21-Sendung als "aggressiv-kämpferisch antipsychiatrisch und anti-psychopharmakologisch" beschimpft. Daraufhin gab es einige Suchanfragen zum den Stichwörtern "strappato" und "scientology". Das ist absolut krank. Ich kann doch nichts dafür, dass z.B. in den USA die psychiatrischen Koryphäen bei den Honoraren der Pharmaindustrie am weitesten die Hand aufgehalten haben. Wahrscheinlich alles nur im Interesse der Patienten.


sil   2008-12-16  
Das ist ein schlecht moderiertes Forum und es gibt genügend Spinner dort. Diese Leute meinte ich nicht.
Das mit den amerikanischen Koniferen war mir nicht bekannt.
Dafür kannst Du natürlich wirklich nichts.

Aber, wenn man von Spinnern beschimpft wird, hat man normalerweise alles richtig gemacht. ;-)

Im ZDF-Forum zur Sendung gibt es übrigens Beifallsstürme von Medizinhassern, Heilpraktikern, Impfgegnern und Sekten-Gutfindern. Das stößt mir sehr sauer auf.


sil   2008-12-17  
Zur Selbsthilfegruppe
ZDF-Forum
"Re: Pharmakartell: Danke für die gute Recherche und für Ihren Mut zur Wahrheit

* von: julie45
* Erstellt am: 17.12.08, 11:51
* 22 mal gelesen

Gute Recherche? Mut zur Wahrheit?
Also wenn der Rest des Beitrages genauso zustande gekommen ist wie der Teil um die Selbsthilfegruppen, habe ich so meine Zweifel.
Ich bin diejenige Frau von der "Beratungsstelle", die man als Verharmloser der Nebenwirkungen von Strattera vorgeführt hat. Nicht nur wurde ich ahnungslos von einem angeblichen Vater einer 17 jährigen Tochter (nicht "Sohn") mit versteckter Kamera gefilmt, auch meine Aussagen wurden vollkommen aus dem Zusammenhang gerissen und ins Gegenteil von dem verkehrt, was ich eigentlich gesagt hatte. Nämlich dass keins der Kinder aus unserem Umfeld wegen der Nebenwirkungen mehr Strattera bekommt; dass es meines Wissens zu zwei Suizidfällen kam (die wurden vom Gesprächspartner bagatellisiert, nicht von mir) und dass wir ganz bestimmt kein Geld von irgendwelchen Konzernen annehmen würden.
Aber das hat ja nicht in die Kernaussage der Sendung gepasst.
Weder Herr Esser noch die Redaktion sind willens, die Originalbänder herauszugeben.
Wirklich sehr mutig!"


hockeystick   2008-12-22  
Die Stellungnahme von ADHS Deutschland e.V. als Pressemitteilung:

http://www.openpr.de/news/269636/Stellungnahme-zur-Sendung-Frontal21-Das-Pharma-Kartell-vom-09-12-2008.html

(ist eine möglicherweise aktualisierte Version der ursprünglich verlinkten)


florence007   2008-12-29  
Sehr guter Report
Die Sendung war Klasse!!! Das dies nicht zwangsläufig auf offene Ohren stößt und mit weit geöffneten Armen empfangen wurde ist wohl klar! Die Fakten waren nicht neu und hätten durch zahlreiche weitere Beispiele erweitert werden können. Zu anderen Fakten, wie der Aussage des Herrn Seehofer, die Vorgehensweise mit Plavix (wobei Plavix hier m.E.nur als Synonym für etliche andere AM steht), die Honorierung vermeintlicher Beratertätigkeiten, die Finanzierungen an Kliniken die Studien durchführen (auch wenn man gern in Kauf nimmt, daß die ursprünglich streng gestellten Indikationsgruppen ausgeweitet werden und z.B. Chemotherapien die lt. Studienvorgaben nur bei Rezidiven eingesetzt werden sollen und dann auch bei PrimärTM "genutzt" werden...), "Fortbildungsveranstaltungen" für klinische Obrigkeiten - eine Lüge???? Donnerwetter, in welcher Welt leben hier einige???
Und dann noch eine Frage in eigener Sache: Wie kann es möglich sein, daß für ein "Medikament" das als solches in D nicht zugelassen ist und lediglich als Nahrungsergänzungsmittel "läuft", in D nicht erhältlich ist und zu 100% pflanzlich ist, jetzt von einem Pharmaunternehmen ein Patant angemeldet (bereits bewilligt?) wird?? Auf Pflanzen soll dies ja eigentlich nicht möglich sein... Und etlichen Kritikern zufolge soll es ja noch dazu wirkungslos sein.!?








Stationäre Aufnahme












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