Statine von der Wiege bis zur Bahre

Die American Academy of Pediatrics (AAP) hat neue Leitlinien herausgegeben, in denen der Einsatz von Cholesterinsenkern bei Kindern ab dem Alter von 8 Jahren empfohlen wird. Bei "familiärer Belastung" soll der Cholesterinspiegel bereits ab dem Alter von 2 Jahren kontrolliert werden. Damit verbunden sei die Hoffnung, Herzproblemen im Erwachsenenalter vorzubeugen.

Das Ärzteblatt fasst die neuen Kriterien für eine medikamentöse Cholesterinsenkung im Kindesalter zusammen:
Diese könne generell erwogen werden bei Cholesterinwerten von 190 mg/dl oder darüber. Dieser Grenzwert sinkt auf 160 mg/dl, wenn die Familienanamnese positiv oder zwei oder mehr Risikofaktoren vorliegen. Bei einem Diabetes sollte der Cholesterinwert bereits ab 130 mg/dl behandelt werden.

Im Alter von 13 bis 14 Jahren liegt der durchschnittliche Gesamtcholesterinwert in Deutschland, ähnlich wie in anderen westlichen Ländern, bei rund 185 mg/dl. Bei Vierjährigen liegt der Wert etwas darunter, bei älteren Kindern darüber. Rund die Hälfte aller Kinder und Jugendlichen kämen bei Anwendung dieser Richtlinien somit als lebenslange Kunden der Hersteller von Cholesterinsenkern in Frage.

Selbstverständlich fehlt jegliche Evidenz für den Einsatz von Cholesterinsenkern bei Kindern. Schon im Erwachsenenalter konnte ein geringfügiger lebensverlängernder Nutzen von Cholesterinsenkern bislang nur für die Medikamentenklasse der Statine bei Patienten mit bestehender Vorerkrankung des Herzens gezeigt werden.

Vermutlich hat die AAP den Widerstand in der Fachöffentlichkeit gegen diesen neuen lukrativen Vorstoß unterschätzt. Die New York Times zitiert heute einen Mediziner und AAP-Funktionär, der sich für seine Fachorganisation schämt:
To be frank, I’m embarrassed for the A.A.P. today. Treatment with medications in the absence of any clear data? I hope they’re ready for the public backlash.

In Peter Rosts Blog kommt die Gründerin und Präsidentin der Verbraucherschutzorganisation AHRP, Vera Hassner Sharav, zu dem Thema zu Wort. Sie stellt die finanziellen Verbindungen zwischen der AAP und verschiedenen Pharmakonzernen heraus und verweist auch auf die Interessenkonflikte der beteiligten Funktionäre sowie auf bekannte Nebenwirkungen:
Given the potential risks of harm from statins-including cognitive impairment, liver damage, and muscle pain, weakness, rigidity, shouldn't we seek alternative ways to reduce the risk of heart disease? Life-style changes, healthy eating, no smoking, and exercise are PROVEN EFFECTIVE against cardiovascular disease-and they pose NO risk of any sort.
Auch die wichtige Rolle von Cholesterin bei der Entwicklung von Gehirn und Nervensystem scheint den AAP-Funktionären nicht zu denken zu geben.

In Deutschland haben ähnliche Bestrebungen der als überaus industriefreundlich bekannten "Lipid-Liga" bislang für wenig Aufsehen gesorgt. Bereits im Jahr 2003 ließ sie sich von der Firma Hexal die Erarbeitung ähnlich gestalteter Kinder-Richtlinen für Cholesterinsenker finanzieren.

Hexal brachte noch im gleichen Jahr das erste Simvastatin-Generikum Simvahexal® auf den Markt.

--
Pharmamarketing-Blogger John Mack hat auch schon einen Vorschlag für Pfizer parat, wie man Kindern die regelmäßige Einnahme des Statins Lipitor® (in Deutschland Sortis®) schmackhaft machen könnte.
 
[Pharmamarketing]
Autor: hockeystick   2008-07-08   Link   (2 KommentareIhr Kommentar  


strappato   2008-07-09  
Das ist ein schönes Beispiel für "Disease Awareness". In der Praxis werden diese Empfehlungen, wie schon ähnliche in Deutschland, keine Rolle spielen. Zum einen weil die Kinderärzte es nicht mitmachen und zum anderen, weil die Fachinformationen eher Zurückhaltung fordern:

Simvastatin
Wirksamkeit und Unbedenklichkeit bei Kindern und Jugendlichen wurden nicht untersucht. Daher werden Simvastatinratiopharm Filmtabletten nicht für die Anwendung bei pädiatrischen Patienten empfohlen.

Sortis®
Eine Anwendung bei Kindern sollte nur
durch einen Spezialisten erfolgen.

Kinder und Jugendliche sind die Altersgruppe, die am wenigsten beim Arzt zu finden ist. Eine Medienpräsenz, wie es die Meldung aus den USA erreicht hat, ist eine der wenigen Chancen für die Statin-Herstellern Patienten zu generieren. Nur durch verunsicherte Eltern können Kinder in die Praxen getrieben werden.


hockeystick   2008-07-09  
Spiegel Online hat einen Pädiater gefunden, der das alles ganz normal findet.

Kein Wunder, sitzt er doch im wissenschaftlichen Beirat der Lipid-Liga und tritt auch schon einmal auf Pressekonferenzen von Pharmafirmen auf, um dort den Einsatz von Statinen und Ezetimib für Kinder zu empfehlen.








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