Evidenzkriterien

In der Gesundheitsverorgung dreht sich viel um Fragen wie: Was wirkt, was nicht, was schadet sogar, was soll die Solidargemeinschaft finanzieren, was ist das individuelle Vergnügen des Einzelnen?

Dazu werden klinische Studien herangezogen. Bei der Bewertung hat sich das Konzept der Evidenzbasierten Medizin (EbM) als Methode durchgesetzt. EbM ist der gewissenhafte, ausdrückliche und vernünftige Gebrauch der gegenwärtig besten externen, wissenschaftlichen Evidenz für Entscheidungen in der medizinischen Versorgung individueller Patienten. Die Praxis der EbM bedeutet die Integration individueller klinischer Expertise mit der bestmöglichen externen Evidenz aus systematischer Forschung, so David L. Sackett.

In Deutschland soll das IQWiG den Nutzen medizinischer Leistungen für den Patienten untersucht und Empfehlungen für die Entscheidungsgremien geben und stützt sich dabei massgeblich auf Evidenzkriterien.

Das EbM-Konzept hat jedoch grundsätzliche Schwächen. Alleine wenn man bedenkt, dass Studien von der Pharmaindustrie geschönt werden, negative Ergebnisse unveröffentlicht bleiben oder die Journals nicht unabhängig die Artikel zur Veröffentlichung auswählen.

Aktuell will das IQWiG die Frage klären: Was nützen Antidementiva den Patienten? Hier zeigt sich, dass nicht alles, was Patienten nützt, sich mit streng wissenschaftlichen evidenzbasierten Kriterien klären lasst. Anschaulich erklärt dies der Leiter der Abteilung für Gerontopsychiatrie des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit in Mannheim, Lutz Frölich in einem Interview mit der Ärzte Zeitung: Mit abstrakten Daten kommt man nicht weiter.

Ähnlich sieht dies auch Hans Förstl, Leiter der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Technischen Universität München. In einem ZEIT-Interview vertritt er die Auffassung: Bei der Demenzerscheinung Alzheimer handelt es sich um einen natürlichen Alterungsprozess.

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Zwei Paper, die sich kritisch mit dem EBM-Konzept auseinandersetzen (Achtung: Schwere Kost!):

Holmes D, Murray J, Perron A, Rail G. Deconstructing the evidence-based discourse in health sciences: truth, power and fascism. Int J Evid Based Health 2006;4:180-186.

Sehon SR, Stanley DE. A philosophical analysis of the evidence-based medicine debate. BMC Health Service Research 2003;3:14.
 
[Wissenschaft]
Autor: strappato   2006-09-21   Link   (11 KommentareIhr Kommentar  


hockeystick   2006-09-21  
Ich kann dem Herrn Frölich in vielen seiner Argumente so wenig folgen, dass mich wieder einmal die Frage bewegt, wer den Mann bezahlt. Mit dem Argument "einen Patienten mit Alzheimer-Demenz länger als ein halbes Jahr mit Placebo zu behandeln ist ethisch nicht mehr zu rechtfertigen" kann man pauschal jede Medikamentenstudie für unethisch erklären. Für mich ist der Mann dem ersten Anschein nach ein Mietmaul. Dafür spricht auch die Publikation, in der das Interview erschienen ist.


hockeystick   2006-09-21  
Um die rhetorische Frage gleich mal zu beantworten: Eisai und Pfizer.


hockeystick   2006-09-21  
An anderer Stelle kann man lesen: Prof. Frölich has disclosed that he had/has the following financial relationships/interests with commercial companies pertaining to this educational activity:
Grant/Research Funding: Lundbeck, Pfizer
Consultant/Advisor: AstraZeneca, Myriad, Nomad, Pfizer, Janssen-Cilag


Für mich ein Mietmaul der übelsten Kategorie. Wenn ich dann noch über die Seiten der "Hirnliga" surfe, wird mir endgültig schlecht.

Edit: Warum kann man eigentlich nicht pauschal alle Lobbygruppen mit dem Suffix "-liga" verbieten?


strappato   2006-09-21  
Wenn er für alle tätig ist, dann hat er ja keine eindeutigen Interessen ;-)

Man muss das differenziert sehen. Er relativiert das ja: Aus ärztlicher Sicht ist es nicht zu verantworten, eine langjährige Studie mit einer Placebogruppe zu führen.

In dem Interview werden aber grundsätzliche Aspekte angesprochen, die eine Überlegung wert sind. Hier handelt es sich um eine progressive Störung. Die ethische Entscheidung, wie lange eine Kontrollgruppe ohne Therapie bleiben kann, ohne dass eine nicht reversible Verschlechterung auftritt, ist schwierig. Auch die Frage nach dem geeigneten Endpunkten einer klinischen Studie ist interessant - was ja auch Einfluss auf die ethische Bewertung und gegebenfalls Abbruch der Studie, um die Kontrollgruppe nicht zu benachteiligen, hat.

Im besonderen, da das IQWiG angetreten ist, den Patientennutzen zu bewerten. Da sind klinische Parameter, wenn sie wie im Fall der Demenz überhaupt zu messen sind, oft nur bedingt hilfreich. Das wird ja auch im zweiten link angesprochen. Wenn es ein normaler altersbedinger Abbau ist, wo beginnt die Erkrankung, wie kann man das messen und was ist der optimale Therapiezeitpunkt - auch aus gesundheitsökonomischer Sicht?

Dazu kommt noch die Versorgungssituation. Klinische Studien sind Ausnahmesituationen. Der Erfolg in der klinischen Praxis ist von vielen anderen Faktoren abhängig.

Wir arbeiten gerade für einen Kunden, der ein Implantat auf dem Markt bringen will. Randomisierte Studien sind nicht möglich, da die Indikation für das neue System oder die alternativen Systeme von der individuellen Krankheitsgeschichte abhängt. Der Eingriff ist nicht ohne weiteres reversibel und es ist ein Sinnesorgan betroffen, was eine besonders vorsichtige Risikoabwägung notwendig macht. Das Problem der Wahl von geeigneten Outcome-Kriterien mal ganz ausser Acht gelassen. Trotzdem hält das IQWiG formell für alle Evaluationen an randomisierten kontrollierten Studien fest und weicht nur im Einzelfall davon ab. Was für den Hersteller die Erstattungsfrage und die Planung der Studien unberechenbar macht.

Zwar hat das IQWiG bisher keine Arbeitsaufträge für Medizinprodukte vergeben, aber die ausländischen Unternehmen haben einen Heidenrespekt vor dem IQWiG, zum Teil aus Unwissenheit, und wollen unbedingt ihre Produkte und Studien "IQWiG-sicher" machen.


hockeystick   2006-09-21  
Naja, kürzlich ist wohl erst eine dreijährige Studie mit Alzheimerpatienten zuende gegangen, die eben keinerlei (signifikanten) Nutzen gezeigt hat (wenn ich das auf die Schnelle richtig verstanden habe). Entsprechend gering kann also ein möglicherweise doch vorhandener Nutzen ausfallen (z.B. nur 1 Woche länger bis zur Einweisung ins Pflegeheim). Wenn der Nutzen so klein ist, muss die Studie eben entsprechend länger ausfallen, ohne dass dabei aus meiner Sicht ethische Probleme entstehen. Wenn ein Medikament wirklich hilft, kann man ja umgekehrt auch schon mal eine Studie vorzeitig beenden.

Die geeigneten Endpunkte einer Alzheimer-Studie liegen für mich auf der Hand, es gibt genügend standardisierte Test für die kognitiven Fähigkeiten, die einen etwaigen Nutzen mit weitaus weniger Patienten wesentlich schneller und genauer signifikant nachweisen könnten als ein harter Endpunkt wie die Pflegeheimeinweisung.

Ausserdem fällt es mir schwer, das Geschwätz von Mietmäulern differenziert zu sehen. Wenn jemand sich wie der von der Industrie die Taschen vollstecken lässt, um deren PR-Botschaft in die Welt zu tragen, dann hat er meines Erachtens jede Berechtigung verloren, am wissenschaftlichen Diskurs teilzunehmen.


strappato   2006-09-21  
Da wären wir beim Patientennutzen. Kognitive Tests sagen nicht über den Alltagsnutzen oder Lebensqualität aus.

Durch meinen Job sehe ich das mit den "käuflichen" Experten naturgemäss nicht ganz so extrem. Gerontologie ist immer noch ein sehr kleines Fach mit einer überschaubaren Zahl von Experten. Auf der anderen Seite ist z.B. Demenz durch die demographische Entwicklung ein wichtiger Zukunftsmarkt. Mich wundert es nicht, dass da die wenigen Experten von den Unternehmen hoffiert werden.


hockeystick   2006-09-21  
Wir kommen dann fast in so eine Diskussion rein wie bei den Homöpathen, die behaupten, das, was sie da tun, entziehe sich der wissenschaftlichen Überprüfbarkeit (was natürlich Quatsch ist). Wenn die behaupten, sie verbessern die "Lebensqualität" der Patienten, dann müssen sie auch in der Lage sein, dafür messbare Kriterien anzugeben. Von mir aus auch der Neigungswinkel der Mundwinkel gegenüber der Horizontalen zum Quadrat, gemessen nach dem Frühstück. Egal. Die Bringschuld liegt jedenfalls bei dem, der eine Behauptung aufstellt. Sonst verlassen wir die Wissenschaft und bewegen uns in den Bereich der Religion.


strappato   2006-09-21  
Lebensqualität ist ein messbares Konstrukt.

Man kommt in der Medizin immer irgendwie fast in die "Homöopathen-Diskussion" rein. Aber nicht von der naturwissenschaftlichen Seite, sondern von der gesundheitsökonomischen Seite oder der Erstattung.


hockeystick   2006-09-21  
Was die Erstattung angeht, gibt es ja bei der Homöopathie in Deutschland ganz erstaunliche Ausnahmeregelungen mit zum Teil sehr bemerkenswertem historischen Hintergrund.

Aber ich will mich nicht schon wieder echauffieren. :) Schaun wir lieber zu, wie Don die Contentdiebe platt macht.


strappato   2006-09-21  
Ich finde Dons Blattschuss bei Retingshof-Geschichte bemerkenswert. Sah zwischenzeitlich wie ein Fehlschuss aus. Er hätte eigentlich auch eine Trophäe fürs Kaminzimmer verdient.


hockeystick   2006-09-21  
Ich hatte das nur am Rande verfolgt. Wie ich sehe, wurde die Sau bereits waidgerecht erlegt. Aus meiner Sicht hätte das Pack noch einen ausweidenden Boo (genauer: Insider) verdient.








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