Ärztliches Handeln in der klinischen Praxis Klinische Studien stellen eine Ausnahmesituation dar. Die Behandlung ist kontrolliert und die Studien finden meist an Kliniken statt, die besonders gute Versorgungsstandards haben. Der Wert einer Therapie zeigt sich aber erst im Feld-Wald-Wiesen-Kreiskrankenhaus oder in der niedergelassenen Praxis. Das ärztliche Handeln in der klinischen Praxis soll durch Versorgungsforschung überprüft werden. Darüber hat der Spiegel heute einen Artikel veröffentlicht. Die angesprochenen Dinge sind nicht neu. Ich habe vor ein paar Jahren eine Studie über die Versorgung von Patienten bei einer bestimmten häufigen kardiovaskulären Erkrankung durchgeführt. Das Ergebnis war bestürzend. Kenntnisse von Leitlinien und aktuellen Studien waren bestenfalls mässig, die auf die vorgelegten Fallvignetten genannten Behandlungsempfehlungen waren teilweise grob falsch und erhöhten das Risiko des Patienten für weitere potentiell fatale Ereignisse. Meine persönliche Erkenntnis aus der Studie: Ich würde mit sowas nur zum Kardiologen gehen. Die hatten durchweg akzeptables Wissen. Übrigens waren jüngere Ärzte auch tendenziell besser informiert. Passend, dass Ulla Schmidt die Altersgrenze für die Zulassung eines Mediziners von 55 Jahren und Altersbeschränkung für die ärztliche Tätigkeit von 68 Jahren aufgehoben hat. Wie Versorgungsforschung daran was ändern soll, ist mir unklar. Leitlinien und Therapieempfehlungen werden von deutschen Ärzten traditionell stiefmütterlich behandelt. In Deutschland gilt die Therapiefreiheit mehr als die leitliniengerechte Behandlung. Leitlinien sind rechtlich für Ärzte nicht verbindlich. Sie sind nur Entscheidungshilfen, was auch von den Gerichten regelmässig so gesehen wird. Zudem plant ein weiterer Spieler des Gesundheitssystems, die Versorgungsforschung für seine Zwecke zu nutzen: die Pharmaindustrie. Dass dem Gesetz zufolge die Krankenkassen bei gleicher Wirksamkeit in der Regel nur das billigste Medikament zahlen sollen, ist den Konzernen ein großes Ärgernis. Nun hoffen sie, dass Forscher, wenn sie nur die richtigen Fragen stellen, schon andere Vorteile der teuren Pillen zutage fördern werden. Ist auch nicht neu, wer hat wohl die Studie, die ich durchgeführt habe, bezahlt? [Klinische Studien]
hockeystick 2007-01-03 Im Zusammenhang mit dem Problem der wissenschaftlichen Konsensfindung fällt mir immer ein Zitat von Michael Chrichton ein: "There is no such thing as consensus science. If it's consensus, it isn't science. If it's science, it isn't consensus. Period." Jüngst war ja wieder ein Fall in der Presse, der mit naiver oder gespielter Überraschung zur Kenntnis genommen wurde: http://www.aerzteblatt.de/v4/news/news.asp?id=26099 Ein echter Klassiker zum Thema: Oliver MF. Consensus or nonsensus conferences on coronary heart disease. The Lancet 1985;1:1087-1089. Und richtig amüsant die Financial Disclosures der Autoren der aktuellen Lipid-Leitlinien. Man muss das laut deklamieren, dann ist es noch lustiger. Bei "Pfizer" kann man wenn man will in die Hände klatschen, dann wird es richtig rhythmisch.
Ein gutes Argument. Aber Leitlinien unterscheiden sich auch in der Qualität. Die formale Konsensbildung ist nur eine Stufe. Ziel sollte immer die durch qualitativ hochwertige Studien gestützte Empfehlung im Sinne der Evidence Based Medicine sein.
Soweit ich es überblicken kann, haben wir in Deutschland das Problem, dass Leitlinien nicht qualitativ weiterentwickelt werden und auch die regelmässige Überprüfung oft fehlt. Der Konsens ist dann halt die Form, die die geringste Arbeit macht und mit der die wenigsten Einschränkungen in Therapie und "competing interest" verbunden sind.
Der Ausgangspunkt für diese "Methodischen Empfehlungen" ist die Illusion, es gehe bei der Leitlinienerstellung um den freien Wettstreit wissenschaftlicher Meinungen, bei der sich am Ende die Argumente mit der besseren empirischen Basis durchsetzen. Das ist rührend naiv, wo es hier bei einzelnen Streitpunkten für die Industrie häufig um hunderte von Millionen Euro geht. Ernstzunehmende Leitlinien könnten vielleicht unter Federführung einer Art IQWiG mit erweiterten Kompetenzen entstehen. Nur woher nimmt man soviele Wissenschaftler mit hohen ethischen Standards?
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