10 Thesen zum Ende des unabhängigen Medizinjournalismus

1

Medizinjournalismus mangelt es an Professionalisierung
Drei Dutzend ärztliche Fachgebiete und Weiterbildungen, eine jährlich vierstellige Zahl von Absolventen gesundheitswissenschaftlicher Studiengänge - der Medizinjournalist steht einer Armada von Experten gegenüber. Der Klassiker naturwissenschaftliches Studium und journalistische Fortbildung alleine genügt nicht mehr, um kompetent über die Komplexität des Gesundheitswesens zu berichten und nicht als PR-Organ der Interessensgruppen zu dienen.

2

Medizinjournalismus ist konträr zu den Erwartungen
Die fachlichen Anforderungen werden höher, jedoch fehlt das Interesse an unabhängigen, kritischen Medizinjournalismus als Gegengewicht zur PR. Unternehmen wollen Hoffnung auf Heilung verkaufen, und auch der Leser/Patient verlangt für sein Geld unrealistische Perspektiven, und nicht das Infragestellen durch die Bewertung von medizinischen Innovationen.

3

Wirtschaft und Politik werden für den Medizinjournalismus wichtiger
Medizinische Entwicklungen eröffnen Chancen und interessieren die Öffentlichkeit. Ihre Finanzierbarkeit limitiert die Bedeutung für den Einzelnen und die Gesellschaft. Der Marktzugang bestimmt den Fortschritt. Eine journalistische Begleitung der Verteilung der im Gesundheitswesen zur Verfügung stehenden Mittel und der damit Verbundenen wirtschafts- und gesundheitspolitischen Entscheidungsprozesse ist jedoch nur für eine schmale Zielgruppe von Interesse.

4

Wellness- und Lifestyle- ≠ Medizinjournalismus
Medien müssen bei medizinischen Themen eine Reduktionen der Komplexität vornehmen. Medizinjournalismus internalisiert Verkürzung. Die Herausforderung besteht darin, die medizin-ethische Dimension trotzdem angemessen zu berücksichtigen. Medizinjournalisten benötigen in ethischer Hinsicht ein hohes Mass an Verantwortungsbewusstsein. Stattdessen sind Emotionalisierung und Polarisierung, wie bei Wellness- und Lifestylethemen, von den Medien gefragt.

5

Medizinjournalismus ist gegen Infomüll auf verlorenem Posten
Medizin ist im Internet ein Top-Thema. Kein Publikumsmedium kommt ohne Gesundheitsinformationen aus. Die Öffentlichkeit wird von Tipps und Empfehlungen zu Medizin und Gesundheit erschlagen. Das wenigste davon ist nachrecherchiert und journalistisch aufbereitet. Quantitativ und Qualitativ können Medizinjournalisten den Berg an Infomüll nur ergänzen und dringen nicht durch.

6

Social Media – Erfahrungen statt Medizinjournalismus
Twitter, Facebook, Foren, Blogs, Bewertungsportale – Internetnutzer produzieren Gesundheitsinformationen und kommunizieren persönliche Erfahrungen. Das Internet gibt dem mündigen Patienten die Werkzeuge, die Behandlung nach seinen Bedürfnissen zu gestalten. Das ist die Vision von Health2.0. Ob dies Realität wird, bleibt offen. Für Medizinjournalisten in jedem Fall keine erquickende Vorstellung.

7

Medizinjournalismus ist expertenhörig
Ohne Statements und Einschätzungen von Experten sind Medizinjournalisten hilflos. Dabei verkennen oder ignorieren sie, dass ihre Ansprechpartner, direkt oder indirekt, von den Anbietern der Medikamente oder Behandlungsverfahren bezahlt werden. Industriegelder pflastern den Weg zu akademischen Lorbeeren für Medizinprofessoren. Medizinische Experten mit der Bereitschaft, in der Öffentlichkeit kritisch zu neuen, lukrativen Behandlungen Stellung zu nehmen? Meist Fehlanzeige und damit auch eine unabhängige Berichterstattung.

8

Im Medizinjournalismus wird Scharlatanerie als Kritik verbrämt
Medizinjournalisten stürzen sich gerne auf alternative Behandlungsmethoden. In persönliche Schicksale verpackt stösst das auf Resonanz, weil es leicht verständliches Erfahrungswissen transportiert. „Mr. Gesundheit“, „Fitnesspapst“, „Dr. Diät“, „Prof. Rücken“ – Ratschläge von Selbstdarstellern zählen mehr als Evidenz.

9

Medizinjournalismus ist Notbehelf
Gesetze, die die direkte Information der Patienten durch die Pharmaunternehmen einschränken und die Werbung für Heilmittel erschweren, halten in der Medizin die klassische Funktion des Journalisten als Vermittler am Leben. Falls die Grenzen weiter aufgeweicht werden, wird der Medizinjournalist als PR-Nothelfer weitgehend überflüssig.

10

Es gibt keinen Markt für Medizinjournalismus
Werbefinanzierte Medien sind der Tod des Medizinjournalismus. Das Werbebudget der Pharma- und Medizintechnikindustrie bestimmt den Inhalt. Bleiben nur schmale publizistische Nischen, ein paar kritische Sendungen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen und seltene Artikel in der Qualitätspresse. Kein Markt für qualifizierte Medizinjournalisten.

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Formuliert von strappato & hockeystick
 
[Journalismus]
Autor: strappato   2010-01-29   Link   (9 KommentareIhr Kommentar  


medizynicus   2010-01-29  
Es gibt keinen Markt...
...damit ist das Dilemma auf den Punkt gebracht.
Ich kenne mehrere gesellschaftlich engagierte, pharmakritisch eingestellte und wissenschaftlich top-fitte Kollegen und Kolleginnen. Die treffen sich auf Kongressen, diskutieren in wunderbaren geschlossenen Internetforen und publizieren in Fachzeitschriften - und weil das, was sie sagen und schreiben Hand und Fuß hat, muss man sehr genau hinhören und hinlesen.

Und doch läßt sich Vieles von dem, was in Fachzeitschriften steht problemlos auch allgemeinverständlich ausdrücken - und das ist bekanntlich der Job des Journalisten. Man kann es sogar so knackig und griffig rüberbringen, dass es auch der Zeitung mit den vier Buchstaben stehen könnte und die Informationen trotzdem seriös recherchiert und nicht unzulässig vereinfacht sind.

Das geschieht aber viel zu selten... warum wohl?


fabianfuchs   2010-01-30  
Warum?
Zeit, Zeit und nochmal Zeit. Widmet sich ein Journalist mal gedanklich einem Thema, dann kommt garantiert in dem Moment eine total geile Meldung über den Ticker, die natürlich noch viel cooler ist (Beispiel: "Große Fußballer müssen öfter für Foulspiel büßen") , und die muss dann "schnell noch gemacht" werden. Verkleistert zwar allen Beteiligten - Lesern wie Journalisten - nur den Kopf, aber klingt doch so lustig. Und der Ressortleiter schießt um die Ecke und sagt "Toll, dass wir das noch auf der Seite / im Blatt haben".


plazebo   2010-01-29  
weil ihr schreibt: "Zum Ende des unabhängigen Medizinjournalismus."
Seid ihr der Meinung, dass es vor ein paar Jahren besser war, oder in den 90ern?


strappato   2010-01-29  
Es war anders... Ich würde aus meiner Erfahrung sagen, dass es sich das "Thema Gesundheit" in den letzten Jahren (eigentlich seit Ende der 90er Jahre) stürmisch verändert hat - medial, politisch, wirtschaftlich, wissenschaftlich. Der Medizinjournalismus hat dem keine Rechnung getragen und von Medizinjournalisten ist dies nicht als Herausforderung angenommen worden.


strappato   2010-01-29  
Mal ein zufälliges Beispiel, das morgen in der Linkliste ist:

pdf-DateiAcademic Search Engine Optimization (ASEO): Optimizing Scholarly Literature for Google Scholar & Co - suchmaschinentauglichkeit statt wissenschaftlicher Präzision. Das hat natürlich auch was mit PR und Wissenschaftsjournalismus zu tun.


hockeystick   2010-02-01  
@plazebo: Unterirdisch bzw. auf verlorenem Posten war der unabhängige Medizinjournalismus auch schon in den letzten Jahrzehnten, das ist keine Frage (Bsp: Cholesterinhysterie).


nicolakuhrt   2010-01-29  
Ende des Medizinjournalismus
Aber was tun, strappato & hockeystick? Neue (eigene) Kommunikationswege noch viel offensiver nutzen, ein eigenes Medium initiieren?


hockeystick   2010-02-01  
"Simply because a problem is shown to exist doesn't necessarily follow that there is a solution."

(Donald Rumsfeld)


der landarsch   2010-02-02  
kann das Ganze (incl. der Leserbriefe) traurigerweise nur unterstreichen. Aber diese Entwicklung vollzieht sich nicht nur in der Medizin (wo sie sicher am nötigsten wäre).

Die Frage nach der Lösung ist für mich aber doch nicht so düster: Wo Dank der beliebigen Verfügbarkeit von Informationen keine Unterscheidung zwischen objektiver Realität ("Wahrheit") und fiktiven Wunschdenkens ("Werbung") für den Nicht-Spezialisten mehr erkennbar ist, ist der unbestechliche Berichterstatter umso notwendiger. Dass dies allerdings die heutigen Formen der Finanzierung sprengt, ist klar. Somit wird der Markt für seriöse und verlässliche Fachberichterstattung sehr klein werden, während die meisten bisherigen Meinungsbildner-Zeitschriften allmählich zu Postwurf-Werbebroschüren mutieren.








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