Staatsmedizin Heute hat Ulla Schmidt in einem Interview weitere Einzelheiten der geplanten Liberalisierung des Vertragsrechts genannt. Im Einzelnen: Anstellung von Ärzten in Praxen. Wenn schon die Selbstausbeutung keine zufriedenstellendes Einkommen verspricht, wie soll da mit angestellten Ärzten gearbeitet werden? Aufhebung der Altersgrenze von 55 Jahren für eine Erstniederlassung. Wer älter als 55 Jahre alt ist, bekommt von den Banken wohl kaum noch einen Kredit für eine Arztpraxis in einer honorarmässig unattraktives Region. Hinausschieben der Altersgrenze für Vertragsärzte über 68 Jahre hinaus. Ärzte, die Vorreiter einer Rente ab 70? In Sachsen-Anhalt hat man mit geringem Erfolg versucht, mit Prämien Ärzte, die über 66 Jahre alt sind, zum Weitermachen zu bewegen. Aufhebung Vergütungsabschlags für privatärztliche Leistungen. Klingt gut, aber dazu müsste es erst einmal Privatpatienten geben. Der Anteil der Privatversicherten ist in den unterversorgten Regionen deutlich geringer als im deutschen Durchschnitt. Ingesamt nicht zielführend. Wie schon an andere Stelle berichtet soll wohl eher gezeigt werden, dass es mit den angekündigten Reformen vorangeht, obwohl die Situation insgesamt eher festgefahren ist. Trotzdem wird es die Versorgungslandschaft in Deutschland umkrempeln. Ulla Schmidt benutzt die Unterversorgung in einzelnen Regionen dazu, die Selbstverwaltung in ganz Deutschland zu schwächen. Dazu passt auch diese interessante Aussage: Zugleich kündigte sie anhand eines vorliegenden Eckpunktepapiers an, das Ministerium solle in die Lage versetzt werden, mit Ersatzvornahmen Reformen im Gesundheitsbereich durchzusetzen, sollte sich die Selbstverwaltung nicht einvernehmlich auf neue Regelungen bei der Vergütung und medizinischen Versorgung verständigen können. Damit will sich das Gesundheitsministerium einen Freibrief für Eingriffe in die Selbstverwaltung der Kassenärtzlichen Vereinigungen und Krankenkassen ausstellen - Staatsmedizin von oben. Dies wird auf einen Konflikt mit der Selbstverwaltung und den Ländern hinauslaufen. Gewinner könnten Krankenkassen sein, die mehr Einfluss auf die Versorgung fordern. [Reform]
Wer zahlt, bestimmt die Musik Die Krankenkassen wollen mehr Einfluss auf die Versorgung nehmen. Wie das aussehen kann, zeigt die KKH. Deren Chef will, dass die Patienten vor einen Eingriff die Krankenkasse fragen, welchen Klinik empfohlen wird. Wenn nicht, muss der Patient eine höhere Zuzahlung in Kauf nehmen. Anderer Vorschlag des kreativen Kassenmanagers: Gütesiegel und Zerfikate für Arztpraxen - mit Konsequenzen für das Honorar. Das soll zusammen mit Einsparungen bei den Arzneimitteln Einsparungen von 6 Milliarden Euro bringen. Bei den Arzneimitteln zeigt die KKH schon mal, was Wettbewerb ist. Eine Kooperation mit einer niedersächsischen Versandapotheke wird abgebrochen und die KKH arbeitet stattdessen zukünftig mit einer niederländischen Versandapotheke zusammen. Wie es scheint, haben die Krankenkassen das Prinzip: "Wer zahlt, der bestimmt die Musik" entdeckt. Kein Wunder, ist sich doch die Politik uneinig über das Stück, das gespielt werden soll. [Reform]
Mangelhafte Mängelbesitigung Einzelheiten der geplanten Liberalisierung des Vertragsarztrechts sind bekannt geworden. Damit soll dem Arztmangel im Osten und im ländlichen Raum abgeholfen werden. Meine persönliche Einschätzung ist, dass die Wirkung kaum sichtbar sein wird. Zwei grundsätzliche Probleme sind nicht lösbar: Zum einen die unattraktive Infrastruktur besonders im Osten. Kulturangebot, Schulen, Einkaufsmöglichkeiten, aber auch DSL-Anschluss - ein echter Rückschritt für die Ärzte, die jetzt in den Städten sitzen und in die unterversorgten Regionen gelockt werden sollen. Zum anderen die schlechte Honorarperspektive. Kaum Privatpatienten und Möglichkeiten durch Selbstzahler-Angebote (IGeL) die Einnahmen aufzubessern, aber lange Wege und häufige Notdienste. An diesen Faktoren ändern auch Zweigpraxen oder Teilzeit-Niederlassungen nichts. Das Druckmittel der Entziehung des Sicherstellungsauftrags ist auch ein stumpfes Schwert, da die Kassen auch nichts zu verschenken haben und sich die KVen nicht ohne weiteres Folgekosten aufs Auge drücken lassen. Die Möglichkeiten, den Ärzten mit Garantieeinkommen unter die Arme zu greifen sind begrenzt, und auch begrenzt wirksam, wie Erfahrungen es zeigten. Und die medizinischen Versorgungszentren (MVZ)? Siehe oben. Wo das Einkommen kaum für einen Arzt langt, werden wohl keine MVZs entstehen. Dass diese nun als GmbH den Vertrag mit der KV bekommen, hilft, die finanziellen Risiken im Konkursfall zu begrenzen. Aber die Banken werden eh' nicht in ein MVZ investieren, ohne die Gesellschafter persönlich in die Haftung zu nehmen. Zudem sind MVZ kein Mittel gegen den Hausärztemangel. Nur eine Reform der Honorierung könnte die in den nächsten Jahren weiter zunehmende Unterversorgung lindern. Aber das hat Ulla Schmidt ja erst mal auf die lange Bank geschoben. [Reform]
Stottern des Reformmotors Die Reduzierung der Zahl der Krankenkassen (zur Zeit rund 260) ist ja ein Herzenswunsch von Ulla Schmidt. Die grosse Koalition stösst damit auf unerwartenden Wiederstand: Die Länder wollen mit einem eigenen Gesetzentwurf Kassenfusionen erschweren. Die Kassen sollten deshalb in Zukunft für einen Fusionsantrag ein detailliertes Organisations-, Personal- und Finanzkonzept vorlegen müssen. Darin müsse auch aufgeführt werden, wie sich die Beiträge nach einer Fusion voraussichtlich entwickeln. Außerdem fordern die Länder, auch über Fusionen von den Kassen entscheiden zu dürfen, die eigentlich nicht in ihren Aufsichtsbereich fallen. Das betrifft besonders Betriebs- und Innungskassen. Wenn eine Fusion über Ländergrenzen hinweg stattfindet, wollen die Landesregierungen per Staatsvertrag zustimmen. Diese Forderungen sind ein Schlag ins Kontor für alle Reform-Bemühungen und es ist zu befürchten, dass die "grosse" Gesundheitsreform wieder durch Grabenkämpfe aufgerieben wird. Dazu passen auch die Meldungen, dass die schwierigen Teile wie die Reform des ärztlichen Honorars und des Risikostrukturausgleichs erst einmal auf die lange Bank geschoben werden. [Reform]
Milchmädchenrechnung Durch das AVWG sollen jährlich 1,3 Milliarden Euro Ausgaben für Arzneimittel eingespart werden. In der Begründung des Gesetzentwurfs steht: Insbesondere soll die Arzneimittelversorgung besser als bisher an dem tatsächlichen Versorgungsbedarf der Patientinnen und Patienten ausgerichtet sein. Dahinter steht die Annahme, dass es bei den Arzneimitteln Über- oder Fehlversorgung gibt, die zu nicht notwendigen Mehrausgaben führen. Aus dem jährlich von der GEK erstellten Arzneimittelreport meint Ulla Schmidt ein Einsparpotenzial von rund 3 Milliarden Euro zu erkennen. Was gerne ignoriert wird: Neben einer Überversorgung oder Fehlversorgung gibt es in Deutschland auch massive Unterversorgung bei vielen Erkrankungen. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen hat in seinem Gutachten 2000/2001 auf die Über-, Unter- und Fehlversorgung untersucht und kam zu folgender Erkenntnis: Vergleicht man die derzeit in "Überversorgung" gebundenen Aktivitäten und Mittel ("Wirtschaftlichleitsreserven") mit den vielfältigen Anforderungen, die zur Beseitigung der derzeitigen zahlreichen Formen der Unterversorgung nötig erscheinen, bleibt schon theoretisch ungewiss, in welchem Umfang sich eine solche Umschichtung rechnerisch ausgleichen würde. Wenn alle Patienten nach den medizinischen Leitlinien behandelt werden würden, hätte das allein bei den Medikamenten enorme Mehrkosten zufolge. Eine Dokumentation der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) aus dem Jahr 2003 hat 5 Milliarden Euro Mehrbedarf ermittelt In einem Gutachten aus dem Jahr 2004 wird von 20 Millionen Patienten ausgegegengen, die Arzneimittel nicht im benötigtem Umfang oder gar nicht erhalten In einer kürzlich erschienenen Dissertation über den Mehrbedarf bei leitliniengerechter Arzneimitteltherapie wurden die Mehrkosten bei der Behandlung des Tumorschmerzes, bei der Schizophrenie, der Depression, und bei koronaren Herzkrankheiten ermittelt. Je nach gewähltem Szenario besteht zwischen Ausgaben und erforderlichen finanziellen Mitteln für eine leitliniengerechte Therapie der ausgewählten Krankheitsbilder ein Mehrbedarf von allien 1,9 bis zu 3.2 Milliarden Euro. Medizinische Leitlinien sind eine gute Orientierungshilfe für Arzt und Patient auf dem Weg zu einer sowohl optimalen als auch individuellen Therapie, so Ulla Schmidt in einer Rede anlässlich der Eröffnungsveranstaltung des 107. Deutschen Ärztetages am 18. Mai 2004 in Bremen. Vielleicht meinte sie auch nur die Leitlinien aus ihrem Hause in Form von Gesetzen, die durch Budgetierung und Restriktionen eine Versorgung von Patienten auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse (Evidence Based Medicine) verhindern. [Reform]
Schonungslos Der renomierte Kieler Gesundheitssystemforscher Fritz Beske legt den Finger in die Wunde: Ein konstanter Beitragssatz wird bei den Kosten der demographischen Entwicklung und des medizinischen Fortschritts nicht realisierbar sein. Einer der wenigen Experten in der Gesundheitspolitik, der sein Fähnchen nicht nach der politischen Grosswetterlage in den Wind hängt. [Reform]
Wendigkeit Nun ist bewiesen, was sowieso jeder als Resultat der Koalitionsverhandlungen zur Gesundheitsreform erwartet: Die Bürgerprämie, ein Kompromiss zwischen der Bürgerversicherung und dem Pauschalprämienmodell, ist für die Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) in Deutschland am besten geeignet. Es soll das Ergebnis einer Dissertation sein, in der auf Basis der Daten des Sozio-oekonomischen Panels verschiedene Modelle simuliert wurden. Damit zeigt der Autor der Dissertation eine dem schnellen Geschäft in der Gesundheitspolitik angemessene Reaktion. So hat er in seiner im Dezember 2004 veröffentlichten Dissertation noch die Bürgerversicherung und das Pauschalprämienmodell (Kopfpauschale) als politisch durchsetzbar bezeichnet - an eine grosse Koalition hatte vor gut einem Jahr niemand gedacht. Keiner setzte auf die SPD bei der nächsten Bundestagswahl nur einen Pfifferling. Beinahe zwangsläufig das Fazit der Arbeit: Fasst man die genannten Aspekte zusammen, so scheint das Pauschalprämienmodell eine tragfähige und zukunftsweisende Reformalternative für die finanzielle Absicherung einer bedarfsgrechten Gesundheitsversorgung für die Gesamtbevölkerung zu sein. Der Autor empfahl in seinem 300-Seiten Werk eine Ergänzung durch den Aufbau einer dauerhaften Kapitaldeckung - wie von der FDP gefordert - und nicht etwa durch eine Bürgerversicherung. Nun wo sich die Verhältnisse geändert haben, wird vom Autor der Kompromiss zwischen der von der SPD favorisierten Bürgerversicherung und dem von grossen Teilen der CDU gewünschten Pauschalprämienmodell als besonders vorteilhaft angepriesen und als Ergebnis der Dissertation verkauft. Ein Glücksfall, dass in der Simulationsrechnung alle vier untersuchten Reformmodelle (Bürgerversicherung, Steuerfinanzierung, privatwirtschaftliche Absicherung, Pauschalprämienmodell) unter dem Aspekt der fiskalischen Ergiebigkeit positiv bewertet wurden. Mit dieser Wendigkeit hat sich der junge Wissenschaftler für höhere Aufgaben in der Gesundheitspolitikberatung qualifiziert. Ach ja: Vielleicht gibt es ja sogar demnächst einen Zwang zum Haustier. Denn wer ein Haustier hat, geht seltener zum Arzt. Ein weiterer wissenschaftlicher Meilenstein, der auch auf dem Misthaufen des Nachwuchswissenschaftlers gewachsen ist. [Reform]
Seehofers Reformen Seehofer schaltet sich in die Reformdiskussion ein und droht erstmal: Der Minister kündigte an, er werde als CSU-Parteivize und Chef der Christlich-Sozialen Arbeitnehmerschaft an der Meinungsbildung für die Gesundheitsreform mitwirken. Seinen mangelnden Realitätssinn kann man dieser Äusserung entnehmen: Die Reform müsse in den nächsten Monaten „organisch hinter verschlossenen Türen“ entwickelt werden. Dabei denkt er wehmütig an seinen grössten Erfolg zurück: Als er 1992 das Amt des Gesundheitsministers von der völlig überforderten Gerda Hasselfeld übernahm, ordnete er erst einmal eine Klausur an. Über Wochen wurde eine Gesundheitsreform verhandelt, ohne dass die Öffentlichkeit informiert wurde. Am Ende stand das Gesundheitsstrukturgesetz (GSG). Im Rückblick war es der Anfang der Misere, vor der wir heute stehen. Die damals beschlossen umfangreichen Eingriffe des Staates in das Gesundheitsssystem haben zu der Bürokratie und Unzufriedenheit geführt:
Nur: Hinter verschlossenen Türen wird dies nicht abzuhandeln sein. Dazu noch ein Linktipp für alle, die sich grundsätzlich über die Interessen und Konflikte informieren wollen: Chancen einer Gesundheitsreform in der Verhandlungsdemokratie [Reform]
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